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Lüge und Wahrheit


Schlussrede an der MedArt 17
Unispital Basel
23. Juni 2017

Die Rede mit anschliessender Fragerunde kann unter dem folgenden Link live verfolgt werden:

https://www.unispital-basel.ch/medien/podcasts/medart/medart-basel-17/programm/fr-23062017/

Die schriftliche Version:

"Dass Sie zu diesem Thema einen Politiker anhören wollen, ist erstaunlich, denn - davon sind viele überzeugt - nirgends wird so viel gelogen wie in der Politik. Und es sind immer wieder Politiker, die überzeugt sind, die Wahrheit ganz allein zu kennen und zu vertreten. 

Es gab und gibt in der Politik immer wieder den Glauben an die eigene Wahrheit als die absolute Wahrheit.

Es gibt politische Ideologen, es gibt religiöse Eiferer, in deren Köpfe brennt ein heiliger Scheiterhaufen, der ständig auf Hexen und Opfer wartet, um sie zu verbrennen.

Folgt der andere ihrem Glauben nicht, ist er ein Ungläubiger.

Täglich nehmen wir Anschläge in aller Welt gegen Ungläubige hilflos zur Kenntnis.

Diese absolutistische Grundeinstellung versteht alles, was sich ihr entgegenstellt, als Lüge:

-         „Die westliche Lebenslüge.“

-         „Der Kapitalismus ist eine Lüge.“

-         „Der Kommunismus ist eine Lüge.“ 

Sich auf eine absolute und grosse Wahrheit zu versteifen, ist auch die Flucht in abstrakte Wolken. Sie lenkt davon ab,

-         dass es im politischen Leben meist um kleine, relative, aber sehr konkrete Wahrheiten oder Unwahrheiten geht.

-         Es sind diese Auseinandersetzungen um Wahrheit und Lügen, welche die Tagespolitik entscheidend prägen.

Persönlich wandelte sich meine Einstellung zur Lüge:

-         Im Amt,

-         nach dem Rücktritt und

-         in den jetzigen postfaktischen Zeiten, in denen der amerikanische Präsident einen eigentlichen Krieg gegen die Wahrheit angezettelt hat.

  • 1. Im Amt

Ein ständiger Lügenvorwurf schwebt über der Politik. Selbst beste Freunde (Kurt Aeschbacher, Franz Hohler und Peter von Matt) erhoben ihn stets wieder. 

Das hat mich empört, denn ich war der Überzeugung,

-         eine Politik ohne Lüge sei möglich, so wie ein Privatleben ohne Lüge auch möglich ist.

-         Im Vergleich zu privater und beruflicher Sphäre werde in der Politik weniger gelogen wegen der Medien.

  • Weil der Verdacht der Lüge als Damoklesschwert ständig über allen Aussagen der Politiker baumelt,
  • weil die öffentlichen Scheinwerfer ständig nach Lügen suchen, glaubte ich, wird in der Po0litik weniger gelogen.

-         Ich schrieb dazu gar ein Buch über die Lüge und die Abgrenzung zur List.

 

  • 2. Nach dem Rücktritt

wurde ich etwas gelassener und fühlte mich weniger betroffen.

Machiavelli und Plato habe ich gelesen und dabei bemerkt:

Ich genoss wohl eine allzu christliche Erziehung.

-         Denn es war Thomas von Aquin, der in einer Absolutheit sondergleichen festhielt: Jede Lüge ist eine Sünde!

-         Plato hingegen war da unverkrampft:

  • Er vertrat eine gute Politik, doch gute Politik ist für etwas gut, sie ist nützlich.
  • Es geht nicht, wie im Christentum, um das Gute als Gegensatz zum Bösen, sondern um ein nützliches Gutes.

-         Machiavelli

hat den guten Zweck im Interesse des Staates über die Moral gestellt.

Es sind diejenigen Mittel die besten, welche für den Staat den gewünschten Erfolg sichern

(und da ist die Lüge noch das Harmloseste; er billigt auch Gesetzesbruch und Grausamkeit).

-         Max Weber trennte in Gesinnungs- und Verantwortungsethik:

Wer in Verantwortung des Staates steht, kann gar nicht der Bergpredigt folgen.

„Du sollst nicht töten“, „Liebe deinen Feind wie dich selber“:

Das kann ein Regierungsmitglied gar nicht umsetzen.

Im Interesse des Staates muss es bestrafen, eine Armee mit Waffen ausstatten.

Folglich kann es auch nicht die immer die Wahrheit sagen.

 

Diese theoretischen Erkenntnisse entsprechen ja auch der Realität:

Die Lüge und das Unterdrücken der ganzen Wahrheit ist gang und gäbe.

 

Das gehört zum Funktionieren einer Gesellschaft.

Die Wahrheit kann mitunter grossen Schaden anrichten:

 

-         Ibsen „Die Wildente“ (Gregers Werle kehrt in eine heile Welt zurück, die aber auf einer Lebenslüge basiert. Er will seinen Freund Hjalmar mit der Wahrheit aufklären, doch damit zerstört er dessen ganzes Leben. Kostet Tochter das Leben.)

 

-         1952 gab es ein Attentat auf Adenauer. Ein Polizist starb bei Explosion einer Bombe. Hinter dem Attentat stand der spätere Ministerpräsident Begin, der eine Annäherung zwischen Israel und Westdeutschland verhindern wollte. Adenauer verhinderte die Veröffentlichung dieser Wahrheit, weil er Angst um die Folgen im postnazistischen, mit Antisemitismus vollgesogenen Deutschland hatte, und weil er die Versöhnung mit Israel vorantreiben wollte.

 

Vertuschung der Wahrheit ist das eine. Eigentliche Lügen sind das andere.

Es gibt harmlose Lügen, welche Schmierfett im sozialen Getriebe bilden:

 

-         „Sie sehen ja jünger aus als im Amt...“

 

Das gilt auch in der Politik:

 

  • Die Schmierseife gibt es auch zwischen Nationen:
    • „Wir hatten ein sehr konstruktives Gespräch.“

Tür nicht zuschlagen.

  • Anschlüsse NEAT aus Italien: Italiener verteidigt. Wider besseres Wissen, denn ich wollte sie nicht erzürnen.

 

  • Gesellschaft / Wirtschaft/Berufsleben

-         Schutz der Privatsphäre von Dritten:

  • „Im gegenseitigen Einvernehmen zurückgetreten.“
  • Der Arzt zur Frau des Krebskranken: „Beunruhigen Sie sich nicht, Ihr Mann wird schon gesund.“

 

-         Der Informationsethiker Rafael Capurro befürwortet Lügen im Internet:

Es sei eine Pflicht, bei Alter, Wohnort und Geschlecht falsche Angaben zu machen, weil die sozialen Medien und Internetfirmen persönliche Freiheit einschränken. Falsche Angaben sind berechtigte Notwehr.

Erst recht gilt das für die

  • Interessen des Staates

Allen leuchtet ein:

-         Notlüge: Geiseln,

-         Nationalbank: Als sie im Januar die Bindung des CHF an den Euro aufgab, verteidigte sie noch zwei Tage zuvor den Mindestkurs, obwohl sie intern seit Wochen die Entbindung vorbereitete. Das war eine klare Lüge. Jordan, darauf angesprochen:

  • „Die Kommunikation eines solchen Ausstiegs ist eine sehr delikate Angelegenheit. Würde man offen kommunizieren, käme es zu spekulativen Attacken auf den Mindestkurs.“
  • Auch ich selber entdeckte Lügen, die mir im Amt gar nicht bewusst waren:

-         Wahl Direktor SRF: „Ich habe keinen Einfluss auf seine Wahl genommen.“

 

Das war zwar keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit: Ich habe immerhin Anforderungsprofil so geändert, dass die Wahl auf ihn zulief.

-         Kopenhagen

 

Identifikation und Selbstlüge

 

Die Grenzen zwischen klarem Wissen und unbewusstem Verdrängen fliessen.

Die Identifikation mit dem eigenen Beruf und damit auch mit den eigenen Interessen kann blenden und zu zweifelhaften Wahrheiten führen.

-         Der mit der Privatklinik verbandelte Arzt zum Privatpatienten, der ein Knötlein am Finger entfernen muss: „Sie müssen unbedingt mindestens eine Nacht im Privatspital verbringen; es könnte sonst lebensgefährlich für Sie werden.“

-         Im Privatspital, keine Antibiotika beim Eingriff, schwere Infektion nach dem Eingriff, der Infektiologe:

„Eine Infektion ist nie auf das Spital zurückzuführen; es sind immer die eigenen Bakterien der Patienten, die schuld an den Infektionen sind.“

 

Genauso vereinnahmt auch die politische Aufgabe einen Politiker; er identifiziert sich mit seiner Mission. Seine Überzeugung dynamisiert sich; er beginnt zu glauben, was er sagt.

 

Durch die Kommunikation wird die eigene Unwahrheit verbreitet.

Insofern ist eine Selbstlüge, sobald sie weiterverbreitet wird, eine der schlimmsten Lügen, denn sie führt dazu, dass mit innerer Überzeugung und mit Inbrunst eine Unwahrheit verbreitet wird.

-         Glaubten Tony Blair und Bush an Massenvernichtungsmittel oder logen sie?

(Kerry über Bush: Was er sagte, entsprach nicht der Wahrheit))

 

Ist der Populist ein Lügner?

  • Ja, wenn er gegen sein eigenes besseres Wissen behauptet, es gebe eine einfache Lösung für ein Problem oder wenn er gegen eigenes Wissen, jemandem oder einer Gruppe eine Schuld zuweist.
  • Und wenn er bloss seine eigene Selbsttäuschung weitervermittelt?
    • Das ist politisch trotzdem verwerflich, weil ein Politiker die Verantwortung hat, die Folgen seines Tuns und seiner Reden zu bedenken und schärfend abzuklären, ob seine Aussagen auch einer kritischen Überprüfung standhalten. (Mittelmeer schliessen...)

Ein Politiker in Verantwortung kann sich nicht mit Unwissen von seiner Verantwortung befreien.

Plato geißelte die, die wir heute Populisten nennen, als solche

„die sich mit schweinischem Behagen im Schmutze der Unwissenheit herumwälzen.“

  • Der Vorwurf an die Populisten ist nicht, dass sie allesamt Lügner sind, sondern dass sie die Folgen Ihrer Reden nicht zu Ende denken wollen, um den Verführten zu gefallen.

 

  • 3. Die postfaktischen Zeiten

Die Brexit-Befürworter schrieben ihr zentrales Versprechen breit auf den Kampagnenbus: „Wir zahlen jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Lasst uns das lieber ins Gesundheitssystem stecken.“

Am Morgen nach dem Sieg sagte Ukip-Chef Nigel Farage, die Zahlen seien «ein Fehler» gewesen.

Obama habe das Telefon von Trump abgehört. Auch das erwies sich als eine klare Lüge.

In den USA wurden nach den ersten 100 Tagen des Präsidenten Trump 133 Lügen gezählt.  Das war ja schon Wahlkampf so:

-         dass er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Tausende Muslime in New Jersey habe feiern sehen,

-         dass er seine Steuererklärung bald veröffentlichen werde.

In der Schweiz sagte der Asylverantwortliche der SVP, es seien Rentner wegen Asylbewerbern aus dem eigenen Haus geworfen worden. Als die Lüge aufgedeckt wurde, reagierte er:

„Ist doch nicht so schlimm, das war eben eine Falschinformation.“

In der Abstimmung zu Energiestrategie 2050 behauptete C.B., es gebe ganz neu sichere Atomkraftwerke ohne Atommüll, die jetzt soeben in Schweden gebaut würden.

Gemeinsam ist den Beispielen, dass ein Sachverhalt einer Meinung zuliebe dem Wunschdenken untergeordnet wird.

Meinung geht vor Sachverhalt, Glaube vor Fakten

Die Trennung von Sachverhalt und Meinung ist eine Errungenschaft, die erlaubt, Differenzen zu versachlichen.

Fakten können objektiv umschrieben werden. Wir können uns der Wahrheit zumindest nähern.

-         Erde ist rund (beendete Behauptung, Rom sei Mittelpunkt des Universums)

-         Anzahl Besucher bei Inauguration des USA Präsidenten können ja gezählt oder geschätzt werden.

-         Kann kompliziert werden:

  • Klimaerwärmung (Klimalüge).
  • Daten und Fakten sind nicht dasselbe: In Daten können wir ertrinken, wenn wir sie nicht ordnen. Tatsachen sind das Ergebnis einer geregelten Untersuchung.

Es könnten sich Rechte und Linke aufgrund von Fakten, über die sie sich einigen, nähern. Doch es scheint, dass sich Gegner nur noch je in der eigenen Realität bewegen wollen.

Die Trennung gibt es in verschiedenen Disziplinen:

-         Rechtsprechung: Sachverhalt und Würdigung

-         Früher im Journalismus: Klassische Trennung zwischen Meinung und Sachverhalt, zwischen Berichterstattung Kommentar.

  • Sie wird heute vorsätzlich aufgehoben.
  • In den USA gibt es Fox News und Hunderte von Radio- und Blog-Satelliten,
    • die keine Fakten ausstrahlen, sondern nur Meinungen, zu den Arbeitslosenzahlen, zur Erderwärmung, zu Evolution.
    • Obama sagte: Er würde sich auch nicht wählen, wenn er vor einem Foxbildschirm sässe.

-         Erklärte Strategie, auch sehr renommierter Medien bei uns.

Es geht dabei nicht etwa nur um das Unvermögen eifriger Reporter (denn die Trennung ist schwierig), sondern: Auflagesteigerung, Ankurbelung der Reizspirale.

-         Erst recht in sozialen Medien

Erst diese Trennung erlaubt eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge. Sie verhindert Lügen natürlich nicht, aber sie kann sie entlarven.

 

  • 4. Kriterium für den Umgang mit Wahrheit und Lüge ist das Vertrauen

Wir akzeptieren gewisse Lügen. Andere können wir nicht tolerieren. Die Wahrheit wollen wir auch nicht immer sagen.

Wo liegt das Unterscheidungskriterium?

Nicht in der Nützlichkeit, wie es Plato, Machiavelli und Max Weber vertraten. Selbst wenn es die Nützlichkeit für den Staat ist, untergräbt diese Einstellung jedes Vertrauen in die Staatsführung.

Es ist meines Erachtens das Vertrauen selber. Welches das Kriterium sein muss. 

Eines steht zunächst fest:

Die systematische Lüge zerstört das Vertrauen.

Im privaten Leben:

-         Weihnachtskindlibeweis meiner Mutter

Folge: auch mein Glaube an den Heiligen Geist als Vater des Jesuskindleins wurde etwas erschüttert.

In der Wirtschaft:

-         VW: Das Vertrauen in Werkangaben über Benzinverbrauch oder CO2 Ausstoss dahin.

-         Im Internet werden wir von Klick zu Klick übertölpelt:

-         Flugtickets bestellen: 25 Leute sehen diesen Flug auch gerade an, nur noch drei Plätze frei, nachher sitzen wir in einem halbleeren Flugzeug.

In der Politik:

-         Einem Regime, das ständig lügt, glaubt man nichts.

-         Kommunismus (Den Begriff „Demokratie“ empfand Havel als Lüge)

 

Ohne Vertrauen können die Menschen nicht miteinander leben.

Ein demokratischer Staat organisiert deshalb das Vertrauen unter den Bürgern:

-         Treu und Glauben im Zivilrecht,

-         Treu und Glauben im öffentlichen Recht (Fall Polanski),

-         Bestrafung der Arglist und des Betruges, also eines Lügengebäudes zum Nachteil eines anderen.

 

Der Umgang mit Wahrheit und Unwahrheit muss dem Vertrauen dienen und darf es nicht zerstören.

Erfordert das Vertrauen vollständige Aufklärung?

-         Muss der Arzt dem Patienten auf einen Kunstfehler des vorherigen Arztes aufklären?

-         Muss der operationswillige Arzt den Patienten darüber aufklären, dass die Krankenkasse nicht alles bezahlen wird?

-         Das Beispiel von Konrad Adenauer:

War seine Vertuschung der Wahrheit richtig oder falsch?

 

Wenn ein Politiker in einer späteren Situation den Medien, den Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, einer Untersuchungskommission begründen kann, dass es dem Vertrauen gedient habe, was er damals verschwieg, kann die Unwahrheit legitim sein.

Jeder Einzelfall ist in den jeweiligen Umständen der Zeit zu beurteilen und er misst sich am Zusammenleben der Menschen, am gegenseitigen Vertrauen.

***

Und was die absolute, die einzige Wahrheit betrifft?

Wenn wir sie für uns pachten wollen, führt das zu Streit, Terror und Krieg.

Vielleicht liegt ja die Bedeutung des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse in der traurigen Einsicht über das menschliche Verhalten. Und das Verbot, seinen Apfel zu pflücken, hat darin seinen wahrhaftigen Grund.

Halten wir es also mit Lessings Nathan dem Weisen:

„Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.“