Navigation ausblenden

Die Sonne, der Mond, die Liebe und das Automobil


Eröffnungsansprache zum 71. Automobilsalon von Bundespräsident Moritz Leuenberger, Genf, 1.März 2001

Mesdames et Messieurs,

Chères Voitures,

Meine Damen und Herren,

Liebe Automobile, liebe Automobilinnen

Wörtlich übersetzt bedeutet das Automobil “das Selbstbewegliche” (und Automobilsalon demnach “selbstbewegliches Zimmer”).

Das Automobil – eine multikulturelle Sprachschöpfung

Das Wort Automobil sei gar kein richtiges Wort sondern eine zu verachtende Missgeburt, wurde ich in meiner Schulzeit belehrt. Es setze sich nämlich aus zwei verschiedenen Sprachen zusammen, dem Griechischen “auto” und dem Lateinischen “mobilis”. Korrekt, also ungepanscht, müsse es also entweder Ipsomobil heissen oder Autokino, doch sei letzteres schon anderweitig besetzt.

Was hätte mein Lehrer wohl zum Wort “Automobilsalon” gesagt, wo ja noch eine dritte Sprache involviert ist? Für ihn undenkbar! Darum hätte er bestimmt auf korrektes Deutsch gedrängt: Statt Automobilsalon hätte er gesagt “Kraftfahrzeug-ausstellungsraum”. So wie ja ein Viertaktmotor auf Deutsch Vierzerknalltreibling heisst.

Wie schön, dass wir heute etwas multikultureller denken. So darf ich mich ganz babylonisch ausdrücken: Willkommen im Automobilsalon! (So ist auch noch etwas deutsch dabei)

Das Automobil - unsere Liebe

Etwas, das sich selber bewegt, scheinbar ganz ohne unser Zutun, wie die Sonne, wie der Mond, wie die Liebe, das muss uns ja faszinieren, das muss zu einem Kultobjekt werden, zu einem Kulturgut. Dass wir das Automobil bewundern, dass wir es lieben, dass es Gegenstand von Meisterwerken der darstellenden Kunst ist, dass es besungen wird, dass der car zum castle wird, dass die allermeisten Kinder – übrigens grenzüberschreitend – nach “Mama” als zweites Wort gleich “Auto” plappern können, dass beim Drang der Menschen, sich zu bewegen und zwar schnell zu bewegen, beim Traum von Siebenmeilenstiefeln, wie sie in den Märchen geschildert werden, das Automobil zum Objekt der Liebe wird: das ist ja ganz natürlich.

Auch der Bundesrat liebt das Automobil: Sein Präsident kommt immer hierher - und das seit es den Salon gibt. Ehrlich gesagt, fand ich schade, dass ich, obwohl Verkehrsminister, bis jetzt nie zu Ihnen kommen durfte. Aber: Ich hatte zu lernen und ich habe heute begriffen: Ich musste eine Bewährungsprobe bestehen, nämlich das höhere Examen zum Bundespräsidenten.

Jung-Bundesräte, die noch keine Praxis haben, akzeptiert der Salon nicht; das Billet gibt’s erst nach unfallfreier Praxis. Dieses Bewährungsmodell ist so gut, dass wir es für unser neues Konzept des Fahrausweises übernommen haben. Ich kann also davon ausgehen, dass Sie unser neues Konzept vorbehaltlos unterstützen werden.

Aber Objekte heisser Liebe können uns bekanntlich auch enttäuschen. Sie stets bei guter Laune zu halten, kann zum Beispiel ganz schön teuer werden. Liebende gewöhnen sich aneinander, die ursprüngliche Faszination weicht dem Alltag und manchmal fragt sich der ehemals feurige Liebhaber: Stimmt es denn, was mir meine damalige Liebe versprochen hat?

Nehmen wir den Fall des Automobiles. Stimmt die Verheissung, selbstbeweglich zu sein?

Die drei Krücken des Autos

Bei genauerem Hinsehen, sehen wir Automobilliebhaber plötzlich: Dieses angeblich Selbstbewegliche braucht ja Krücken, sonst kommt es nicht vom Fleck: Denn, um sich zu bewegen, braucht das Auto

  1. Strassen,
  2. Benzin und
  3. Menschen, die es lenken.

Es sind diese drei Krücken des Automobiles, welche die aktuelle politische Diskussion prägen:

  • Wie viele Strassen, Tunnel, Alpendurchstiche sollen wir dem Auto zu Verfügung stellen? Wo setzen wir Prioritäten?
  • In welchem Umfang und zu welchem Preis dürfen Rohstoffe, deren Vorräte endlich sind, für die Mobilität verwendet werden? Und wie viel CO2 darf ihre Verbrennung produzieren?
  • Was tun wir, damit die Menschen, welche die Automobile lenken, diese sicher lenken und keine Unfälle verursachen?

Nachhaltige Verkehrspolitik

Diese Voraussetzungen zur Auto-Mobilität will die schweizerische Verkehrspolitik nach den Kriterien der Nachhaltigkeit gestalten. Nachhaltigkeit heisst nicht, wie da und dort immer noch gemeint wird, Umweltschutz. Nachhaltigkeit will drei verschiedene Ziele berücksichtigen, diese gegeneinander abwägen und eine Lösung je im Einzelfall finden. Die drei Aspekte der Nachhaltigkeit sind

  • die wirtschaftliche Bedeutung (des Verkehrs)
  • der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (vor dem Verkehr)
  • die soziale Bedeutung, der gesellschaftliche Wert (des Verkehrs).

Wie viele Strassen braucht der Mensch?

Strassen sind für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes oder einer Region von grösster Bedeutung. Nicht vergeblich kämpfen alle Regionen darum, ans Nationalstrassennetz angebunden zu werden. Nicht vergeblich sind einzelne Regionen gar bereit, Autobahnausfahrten aus eigenen Mitteln zu bezahlen, weil sich gezeigt hat: Rund um solche Ein- und Ausfahrten haben sich neue Unternehmen angesiedelt und sind ganze Regionen wirtschaftlich erstarkt.85 Prozent des Personenverkehrs und zwei Drittel des Gütertransports finden heute auf der Strasse statt. Das Strassennetz ist also ein ganz zentraler wirtschaftlicher Standortfaktor. Von der Verkehrsinfrastruktur hängt unter anderem ab, wie wettbewerbsfähig eine Firma oder eine Region ist, aber auch wie wettbewerbsfähig ein einzelner Mensch auf dem Arbeitsmarkt ist. Wer heute als Arbeitnehmer bestehen will, muss mobil sein, damit er nicht auf dem Pannenstreifen stehen bleibt.

Der Staat muss deshalb gute Verkehrsverbindungen im Inland und ins Ausland schaffen, die Verkehrspolitik hat die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

Dieser Aufgabe kommen wir nach, indem das Autobahnnetz zuerst fertiggestellt wird. Indem alle Regionen angebunden werden, erfüllen wir eine Forderung der Nachhaltigkeit, nämlich die soziale Komponente: Auch periphere und wirtschaftlich schwache Regionen sollen die selben Chancen haben wie die Zentren. Keine Region, kein Kanton, kein Sprachgebiet soll das fünfte Rad am Schweizerwagen sein, das ist gewissermassen das Chassis unseres Schweizerischen Staatsverständnisses.

Avanti-Initiative

Einigen ist unser Fahrstil viel zu langsam und nicht aggressiv genug: Auf der Überholspur naht die Avanti-Initiative und drängelt hupend am Bundesrat vorbei.

Auch wir haben keine Interesse an Staus: Die 30 Millionen Stunden, die Schweizer Automobilisten jedes Jahr im Stau verbringen, kosten Nerven und unsere Volkswirtschaft Milliarden von Franken. Wir wollen ein gut funktionierendes Nationalstrassennetz. Die Avanti-Initiative hat eine grosse Schwäche: Die heiklen Stellen des Netzes, die in naher Zukunft noch heikler werden, sind nicht der Gotthard, sondern die Umfahrung von Zürich, das Brüttiseller Kreuz, der Gubristtunnel. Es hat keinen Sinn, die symbolträchtige Gotthardstrecke zu bevorzugen. Es ergäben sich Folgestaus an anderen Stellen. Aus diesen Gründen könnte ich mir, ohne mich aber schon darauf festlegen zu wollen, geschweige denn ausführen zu können, wie der Inhalt genau aussähe, einen Gegenvorschlag zur Initiative durchaus vorstellen und wir prüfen in unserem Departement gegenwärtig einen solchen.

Umweltverträgliche Verkehrspolitik

Der Benzinmotor produziert CO2. Der motorisierte Strassenverkehr verursacht in der Schweiz 35 Prozent des gesamten CO2-Ausstosses. Das CO2-Gesetz verpflichtet uns zu einer CO2-Reduktion von 10% bis 2010 verglichen mit 1990. Grund für dieses gesetzliche Ziel ist die Klimapolitik, die Sorge um die Umwelt. Die Menschheit soll nicht unter die Räder kommen, wir wollen ihr die Erde als Lebensraum erhalten. Als Folge der Klimaerwärmung schmilzt schon heute das Eis an den Polen, ganze Landstriche werden überschwemmt, jähe Stürme und unerwartete Dürren zerstören Leben, Tierarten sterben aus.

Auch beim Autosalon ist die Artenvielfalt am Schwinden. Der offiziell erste Salon von 1924 fand noch statt unter dem Namen: “1. Internationaler Automobil-, Motorrad- und Fahrradsalon”. Die Zweiräder sind im Salon offenbar auf die Felgen gekommen. Und auch bei den Vierrädern sind schon einige ausgestorben: Der Mustang, der Dauphin, der Käfer, die Ente, der Topolino, sogar der Thunderbird! Retten wir also den Jaguar, den Lupo und den Panda, solange es sie noch gibt!

CO2-Abgabe?

Wenn das Klimaziel nicht erreichbar ist, muss ab 2004 eine CO2-Abgabe erhoben und so das Benzin um bis zu 50 Rappen teurer werden. Nie war also der Zeitpunkt für die Autobranche so gut wie heute, das so oft angekündete 1- bis 3 Liter Auto, das Hybridfahrzeug, das Elektromobil, das revolutionäre Brennstoffzellenauto - alle diese Fahrzeuge der Zukunft - endlich an die Kundschaft und damit auf die Strasse zu bringen. Das Motto des 71. Automobilsalons lautet ja: “Innovationen im Scheinwerferlicht!” Es genügt nicht, ein Auto “Ambiente” zu taufen. Die Umwelt schaut nicht auf die Etiketten sondern sie riecht den Auspuff! Die Technologie wäre schon längst zu mehr fähig. Mit freiwilligen Massnahmen der Industrie kann die CO2-Abgabe vermieden werden.

Der grösste Risikofaktor ist der Mensch

Das Automobil ist wegen der Multiplikation von Masse und Geschwindigkeit für andere Verkehrsteilnehmer und für seine Insassen gefährlich. Die Technologie hat sich gewaltig entwickelt - in erster Linie allerdings zugunsten der Autoinsassen. Trotz viel grösserem Verkehr haben wir weniger Verletzte und Tote als in früheren Jahren. Dennoch: Jedes Jahr verursacht er auf Schweizer Strassen 600 Tote. In Europa sind es jedes Jahr 60'000, weltweit 1,4 Millionen Menschen, die auf der Strasse getötet werden. Das ist inakzeptabel. Die aktuelle Revision des Schweizerischen Strassenverkehrsrechts setzt darum beim Verkehrsteilnehmer an:

Dieser soll durch Ausbildung und Kontrolle dazu angehalten werden, die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu erkennen und zu respektieren, so dass möglichst keine schweren Strassenverkehrsunfälle mehr geschehen. Diese “Vision Zero” strebt der Bundesrat im Wesentlichen mit vier Massnahmen an:

  • Die Alkoholpromillegrenze wird auf 0,5 Promille gesenkt und die Kontrollen werden verschärft.
  • Der Führerausweis wird nur noch mit einer dreijährigen Bewährungsfrist abgegeben.
  • Während dieser Probezeit absolvieren alle Neulenker eine Weiterbildung.
  • Die Fahreignung von zukünftigen Automobilisten wird besser abgeklärt: Wir wollen Automobilisten, nicht mobile Autisten.

Das Kulturgut Automobil wird nicht sterben

Ich habe zu Beginn das Automobil als ein Kulturgut gewürdigt. Das zeigt sich auch an einem sprachlichen Phänomen: Auf deutsch sind Automobile männlich (der Mercedes, der Renault) auf französisch weiblich (la Fiat, la Peugeot). Nur wenige, dafür ganz wichtige Symbole haben in diesen beiden Sprachen verschiedene Geschlechter. Das sind, wie wir alle wissen: Die Sonne (le soleil), der Mond (la lune), die Liebe (l’amour) und das Automobil. Wir sehen: Da schliesst sich der Kreis der Selbstbeweglichen wieder.

Unsere Landessprachen kennen nur für ganz grosse Phänomene verschiedene Geschlechter und diese beschäftigen uns denn auch nachhaltig. Wir kennen die Probleme von kaum übersetzbaren Gedichten. Kann der männliche Mond für einen deutschsprachig Liebenden Ersatz für die Angebetete sein? Und umgekehrt: Kann für einen französisch fühlenden Mann “le” soleil Ersatz für eine Geliebte sein? Bei diesen Begriffen geht es um Fragen von höchster philosophischer Potenz, da geht es um die Tiefenpsychologie der Sprache und damit um das Selbstverständnis aller Kulturen der Menschheit, da geht es um Existenzielles, kurz da geht es um die vier Räder, auf denen jede Kultur dieser runden Erde rollt, und die alle vier nie aussterben werden:

Um die Sonne, den Mond, die Liebe und das Automobil.