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Über die List der Politik


31.7. - Schlussveranstaltung der ersten «Ittingen Summer School» in der Kartause Ittingen zum Thema «List in der Wissenschaft»

Diese Rede ist das Resultat einer List.

Herr Ständerat Philipp Stähelin fragte mich vor einem Jahr mitten in einer Parlamentsdebatte, in welcher ich mich eigentlich auf ein gewichtiges Votum eines ebenso gewichtigen Parlamentariers hätte konzentrieren müssen, ob ich nicht eine Rede über die List in der Politik halten könnte. Nun ist Herr Stähelin nicht nur Ständerat und Mitglied der Stiftung, welche den heutigen Anlass beherbergt, sondern er war auch Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP. Vor einem Jahr standen Parlamentswahlen bevor und dieselbige CVP stichelte zu jener Zeit beinahe täglich mit Erklärungen, Pressemitteilungen, Forderungen nach einer parlamentarischen Untersuchungskommission und was das politische Arsenal sonst noch so alles an Liebeswürdigkeiten kennt, gegen meine Amtsführung an, so dass mich das Vertrauen, welches Herr Stähelin plötzlich in mich setzte, fast etwas verwunderte.
Ich witterte eine Chance und nutzte sie: Ich zögerte die Antwort so lange als möglich hinaus und liess Herrn Stähelin während Wochen, ja Monaten zappeln.

Und siehe da: Während dieser Zeit blieben die Liebespfeile der CVP auf wundersame Weise im Köcher des Parteisekretariates zurück und ich konnte frei atmen.

Allerdings wagte ich nach der solchermassen listig hinaus gezögerten Schonzeit nicht mehr Nein zu sagen. Ich realisierte: Es war ja Philipp Stähelin, der eine List angewandt hatte. Ich sass in der Falle und musste Ja sagen, tat es - und nun sass die CVP wieder in der Falle. Sie wagte sich nicht mehr in die Angriffsphase zurück und liess mich zufrieden, damit ich die heutige Ansprache in Ruhe vorbereiten konnte.

Zwei Politiker wandten eine List an. Beide wussten das wohl auch voneinander. Die List hat allen geholfen: Herr Stähelin war erfolgreich. Die CVP fand endlich den Weg, den sie eigentlich schon lange wieder hätte finden wollen, den Weg der Gnade gegenüber einem geplagten Bundesrat. Derselbige konnte sich erholen. Und Sie haben einen Redner.
Damit sind wir bereits zum stringenten Schluss gekommen: Die List in der Politik dient dem öffentlichen Wohl. Ich könnte hier eigentlich schliessen.

Doch Sie sind Wissenschafter und keine Politiker, das heisst Sie wollen zur Erhärtung einer derartigen Beweisführung doch noch einige zusätzliche Untersuchungen. Ich versuche, sie zu erbringen.

Ich meinerseits bin unter anderem Verkehrsminister und beginne mit einem praktischen Beispiel aus der schweizerischen Verkehrspolitik, die sich seit Jahrhunderten immer wieder am Pass des St. Gotthard kristallisiert.

Von Listen am Gotthard

Immer, wenn die Menschen sich am Gotthard zu schaffen machten, war das mit mancherlei Listen verbunden.

Das erste Mal war es, als die Urner für die Gotthardpassstrasse eine Brücke über eine enge Schlucht bauen wollten. Der Steinbogen, der den Abgrund hätte überwölben sollen, krachte immer wieder zusammen.

Die Urner Bauleute waren verzweifelt. Sie wandten sich an einen erfahrenen Mann mit vielen Falten und Kanten im Gesicht, der bei Katastrophen immer wieder geholfen hat, an Franziskus von Steinegg. Der wollte nicht zugeben, dass er auch nicht weiter wusste und wies sie deshalb mit sachverständigem Blick weiter: an den Teufel.

Dieser versprach, bei der Konstruktion zu helfen, unter der Bedingung, dass das erste Lebewesen, das die Brücke überqueren werde, ihm gehöre, ihm dem Teufel.

Als die Brücke vollendet war, liessen die Urner als erstes Lebewesen nicht einen Menschen, sondern einen Geissbock über die Brücke.

Wütend schmetterte der Teufel einen Felsbrocken den Berg hinunter, um die Brücke wieder zu zerstören. Nur weil eine Urnerin eilig eine alte christliche List anwendete und ein Kreuz in die Brücke ritzte, konnte der Stein diese nicht zerstören und donnerte weiter nach unten.

Umschreibung und Abgrenzungen

Wir sehen aus dieser Geschichte: Einmal freuen wir uns über eine List, ein andermal empfinden wir sie als verwerflich.

Die List selber ist aber wertneutral, auch wenn sie von vielen in einer ersten Reaktion in der pejorativen Nähe der Arglist vermutet wird. Sie ist kein Laster, keine Last. (Darum unterscheidet ja der Engländer: Last but not least!)

Die List ist eine Kunst und gehört zum menschlichen Umgang miteinander. Der Mensch verfolgt bestimmte Zwecke und dazu bedient er sich - bewusst oder intuitiv - verschiedener Mittel, verschiedener Instrumente. Dies ist die Kunst, mit einer Verhaltensweise bestimmte Resultate oder Effekte zu erreichen. Das gilt für die bildende Kunst, das Handwerk, die Wissenschaft, die Lebensführung, also auch für die Politik mit all ihren Sparten wie der Rhetorik oder der Staatsführung. Die List als eine besondere Technik findet sich in jeder dieser Künste: Die Bekämpfung einer Viruskrankheit mit demselben Virus, welcher Abwehrkräfte im menschlichen Körper schafft, die Überwindung der Schwerkraft in der Aviatik, die Positionsbestimmung und die Navigation durch Satelliten, die Capatatio benevolentiae in der Rhetorik, die Polemik in der Politik und immer wieder die List im Krieg.

Die List entsteht sowohl im Kopf, als auch im Bauch. Sie kann für erstrebenswerte und für verwerfliche Ziele gebraucht oder missbraucht werden.

Es gibt umfangreiche Abhandlungen und Analysen, in welchen die verschiedenen Listen der Menschen analysiert und katalogisiert werden. Am bedeutendsten ist das Werk Harro von Sengers, der die Listen der westlichen und östlichen Hemisphäre miteinander vergleicht.

Finales Handeln und Intuition

Das ist sehr faszinierend und spannend, doch darf darob nicht der falsche Eindruck entstehen, diejenigen, welche Listen anwenden, täten dies ebenso rational, bewusst und vorsätzlich wie die Analytiker.

Ich weiss nicht, ob Herr Stähelin seine List, mich für die heutige Rede zu gewinnen, absichtlich ersann. Der Mensch ist ein Zoon politikon und als solches geht er meist ganz instinktiv vor, ohne wie ein Schachspieler so viele Züge wie möglich mit all ihren Eventualitäten und Subeventualitäten voraus zu berechnen.

Wir Politiker werden bezüglich taktischer Winkelzüge, raffinierten Berechnungen jedenfalls masslos überschätzt. Manch vermeintlich kluger Schachzug ist in Wirklichkeit aus blossem Versehen eingeleitet worden.

War es eine List von Kanzler Schröder, als er kurz vor den Wahlen - bei schlechten Umfrageergebnissen - eindeutig gegen die Irakintervention Stellung bezog und die vom Hochwasser überfluteten Gebiete besuchte? Nach den Schriften, die ich über die List gelesen habe, ja. Mir scheint das aber eine innere Überzeugung und geboten gewesen zu sein. Dass diese Überzeugung auch Stimmen bringen kann, ist nicht anrüchig. Verwerflich wäre eine politische Aktion, die nur dem Stimmenfang dienen und ohne innere Überzeugung erfolgen würde.

List und Ratio

Es gibt eine Definition der List, wonach sie erst eine solche sei, wenn sie bewusst angewendet werde. Andererseits fand ich auch wieder Autoren, die bei Tieren listiges Verhalten oder listige Erscheinungsformen feststellten.

Beides leuchtet mir nicht recht ein.

List bei den Tieren:

•·        Zunächst kann ich keine List in der Morphologie, z. Bsp. in der Tarnfarbe der Schwebefliege sehen, denn dies scheint doch eher eine Folge der Evolution zu sein: Es überleben diejenigen, die mit ihrer Farbe entweder andere Tiere abschrecken oder sich unsichtbar machen können. Tiere ohne solche Farben werden gefressen und ihre Gattung stirbt aus. Darum haben es politische Parteien, die sich dem Ausgleich oder dem Frieden verschreiben, schwer und drohen zerrieben zu werden. Die Ausdünnung der politischen Mitte ist ja nicht nur in der Schweiz unübersehbar.

•·        Anders ist es beim Verhalten der Tiere: Die Kiebitz-Mutter, die einen Angreifer vor dem Nest mit den Jungen ablenkt, indem sie vortäuscht, verletzt zu sein, geht tatsächlich listig vor, wobei das wohl auch eher ein instinktives und weniger ein vorsätzliches, also rationales Vorgehen ist. (Ganz anders bei einer anderen Vogelart, der Schwalbe: Wir beobachten sie immer wieder im 11 Meter Raum eines Fussballfeldes, wo sie meist ganz instinktiv zu Boden fällt, was aber in der Regel als Arglist interpretiert wird, es sei denn der Schiedsrichter schaue listig weg.)

Auch was das Definitionselement des Vorsatzes bei der menschlichen List angeht, habe ich Mühe.

Das scheint mir eine sehr subjektive, nämlich auf die Persönlichkeit des Handelnden und nicht auf die List selber bezogene Definition, denn dann wäre ein und dasselbe Vorgehen das eine Mal eine List das andere Mal nicht. Also:

•·          Wenn wir auf der Strasse beinahe mit einem anderen Menschen zusammenstossen, lächeln wir reflexartig. So brechen wir aufkommende Aggressionen auf der Gegenseite. Das tun wir nicht bewusst. Dennoch ist dieses menschliche Verhalten genau so eine instinktive List wie das bewusste Lächeln eines Politikers in eine Kamera oder das Erzählen eines Witzes vor hostilem Publikum eine bewusst angewandte List sein kann. Der Handelnde kann allerdings die Folgen seiner zunächst intuitiven Aktion mit der Zeit erkennen und sie allmählich bewusst anwenden. Das kann zur erfolgreichen List werden oder zur billigen Masche verkommen.

•·          Wer sich für einen Fehler entschuldigt, gewinnt das verlorene Vertrauen zurück. Jedes Kind, das die elterliche Porzellansammlung in Scherben schlug weiss: Zerknirscht sein, "Entschuldigung" sagen, "hab ich nicht absichtlich gemacht" - und die Sache ist wieder in Ordnung. Diesen Effekt hat die Politik längst begriffen und seit der bekannten List des Ganges nach Canossa kommt das "Sorry" mitunter etwas gar listig und schnell über politische Lippen. Den Effekt, den Bill Clinton mit seinem "Sorry" nach der Lewinsky-Affäre noch erzielte, konnte George Bush mit seiner öffentlich zur Schau gestellten Zerknirschung nach den Bildern aus Abu Ghraib kaum mehr erwirken. Statt einer notwendigen Fehlerkultur herrscht heute eine routinierte Sorry-Kultur.

•·          Ein bescheidener, selbstkritischer Mensch kann Sympathien ernten. Er kann diesen Effekt intuitiv erfassen und so ganz gut fahren. Er kann das Ganze aber auch bewusst pflegen. Understatement kann eine Tugend sein, es kann aber auch gepflegt und zur List werden. Ich denke dabei an die Berner Altstadt: Alle Häuser, vor allem jene der Aristokraten, wirken gegen aussen ärmlich, um keinen Neid zu wecken. Es gab damals auch das Verbot sechsspänniger Pferdekutschen, um nicht zu protzen. Geld nicht zeigen ist eine List, um politische Diskussion über Reichtumsverteilung nicht aufkommen zu lassen. War das republikanische Intuition oder eine bewusste List, um den Gang der Geschichte bis zum Auftritt Napoleons hinauszuzögern?

•·          Das Verliererimage kann gepflegt werden, denn es bringt Sympathien, nicht nur bei Müttern, sondern es kann auch den Gegner beeinflussen: In Vertragseinigungen von Arbeitgebern mit Gewerkschaftsvertretern, denen die Basis noch zustimmen muss, gehört es dazu, öffentlich darüber zu klagen, wie man über den Tisch gezogen worden sei, damit die Basis der Gegenseite zustimmt.

Stehen die List und die Ratio nicht sogar in einem Widerspruch? Eine finale Handlung kann von einem noch schärfer Denkenden durchschaut und abgewehrt werden. Die helle, vom Licht der Aufklärung durchflutete, offen zugängliche Ratio kann doch eigentlich gar keine List sein. Ich denke an ein Schachspiel: Zwei Superhirne, die nur gerade von Ratio durchdrungen sind, müssten also konsequenterweise immer Remis spielen, weil sie sich nicht überlisten können. Beim Mühlespiel ist dies jedenfalls erwiesen.

Die List, das heisst das Überlisten und das Überlistetwerden - die beiden gehören zusammen - ist eben auch im intuitiven, emotionalen, dem Gegenüber verborgenen Bereich angesiedelt und sollte nicht bloss als eine Waffe der Ratio begriffen werden.
Verführung und Manipulation

Ein weiteres Definitionselement der List sagt, sie sei ein Kunstgriff, um das Gegenüber zu einem Verhalten zu bewegen, das es im Grunde nicht wolle. Hinterfragen wir das:
Etwas, was das Gegenüber im Grunde nicht will?

Verführung ist List. Verführung spielt mit dem Gegenüber und bringt es zu einem Tun, das es nur vordergründig nicht will, in den Tiefen seiner Seele jedoch ganz gerne ausprobieren möchte. Etwas anderes ist demgegenüber die Manipulation. Sie bringt den anderen zu einem Tun, das er nicht will. Als der spanische Ministerpräsident Aznar nach den Bombenanschlägen in Madrid den Verdacht auf die ETA lenkte, versuchte er, Medien und Öffentlichkeit zu manipulieren. Das war nicht List, das war Arglist. Als solche wurde sie denn auch entlarvt, und das führte zu einem Regierungswechsel.

Obwohl die List selbst wertneutral ist, sympathisieren wir mit einer List oder wir verurteilen sie, je nach dem Ziel, das mit ihr erreicht werden will. Wir lieben den Soldaten Schwejk, weil er mit Schlauheit Oberste und Generäle überlistete. Wir solidarisieren uns mit David, wenn er listenreich gegen Goliath antritt. Wir solidarisieren uns mit Literaten, Opernautoren, Kulturschaffenden, die ihre Handlungsorte in andere Länder verlegen, um der Zensur zu entgehen.

Wie aber bewerten wir die List in der Demokratie, wo der Souverän das Volk, die Regierung das ausführende Organ ist?

Die politische List in der Demokratie

1.      Die politischen Akteure unter einander

Beginnen wir mit dem Verhältnis der politischen Akteure untereinander. Sie handeln, um sich durchzusetzen, die anderen auf ihre Seite zu ziehen, zu überreden, zu überzeugen, am Stammtisch, in Vereinen, Parteien, im Parlament, in der Regierung.

•·        Ich erinnere mich an ein Erlebnis, das ich als junger Parlamentarier in meiner ersten Kommissionssitzung hatte: Bei der Vorbereitung fragte mich ein erfahrener Parlamentarier: "Was willst du beantragen?". Seine Reaktion auf meine Pläne waren väterlich, besorgt: "Nein, das geht niemals, da verheizt du dich!". In der Sitzung machte er dann alle meine Ideen wortwörtlich zu seinen eigenen Anträgen und profilierte sich so.

•·        Sowohl im Parlament wie in einer Regierung wird gelegentlich gegen die eigene Überzeugung mit einer Minderheit gestimmt, um die Unterstützten bei einer nächsten Abstimmung auf der eigenen Seite zu haben.

•·        Und immer wieder verbünden sich Parteien mit dem politischen Gegner, in listig wechselnden Koalitionen. Darum spricht man ja auch von Listenverbindungen.

2. Der Souverän

Kann der Souverän, kann die Stimmbürgerschaft listig sein? Wie ein Kollektiv handelt, bei einer Abstimmung zum Beispiel, ist ja genau zu eruieren, doch welche Motive dahinter sind, wie das Kollektiv denkt? Ich bewundere stets die Journalisten, die auf entsprechende Frage ihrer Kollegen, nach einem Unglück oder nach einer Wahl - manchmal ist das das Gleiche - genau beschreiben können, was die Bevölkerung empfinde, was und wie sie denke, welche Absichten sie hege.

•·        Bei einem homogenen Kollektiv wie etwa bei einer Partei ist das gewiss möglich. Die SVP-Plakate mit roten Ratten, Läusen sind eine List. Ich ärgere mich jedes Mal über die Medien oder Mitglieder meiner eigenen Partei, die sich überlisten lassen und in diese Falle treten, sich empören und der SVP so ermöglichen, monatelang in den Schlagzeilen zu verweilen, ganz wie sie es beabsichtigte.

•·        Anders bei einem heterogenen Kollektiv: Da kumulieren sich bei einer Willensäusserung ja verschiedene Motive. Das gilt nicht nur für den Souverän, das gilt auch in jedem Parlament. Einige mögen listig denken, gewiss, doch nicht alle. Bei der Alpenschutzinitiative zum Beispiel gab es naturschützerische Beweggründe, es gab aber auch Stimmbürger, die wollten den schweizerischen Bemühungen um ein bilaterales Abkommen mit der EU eins auswischen, indem sie hofften, mit diesen Restriktionen werde ein Vertrag mit der EU gar nicht möglich sein. Das ist aber noch nicht eine List "der Schweiz", ja nicht einmal der Mehrheit des Souveräns. Trotzdem wurde es von der EU damals so empfunden.

3. Die richterliche Behörde

Auch richterliche Behörden sind gelegentlich listig. Ich verweise auf den Fall Spring: Es ging darum, ob ein deutscher Jude, der im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze zurück gewiesen wurde und in der Folge in das KZ kam, ein Recht auf eine Genugtuung der Schweiz habe. Das Bundesgericht musste die Klage  aus formaljuristischen Gründen ablehnen. Aber es gestand Josef Spring exakt die von ihm geforderte Summe als "Entschädigung für prozessuale Umtriebe" zu.  Die List bestand darin, der Öffentlichkeit zu sagen, im Grunde genommen habe Josef Spring Recht.

4. Die Regierung

Das aussenpolitische Handeln einer Regierung ist so listenreich wie die Beziehung zwischen Menschen oder Firmen, allerdings versüsst durch den Zuckerguss diplomatischer Eloquenz, welche wahre Differenzen zu vergessen oder zumindest zu beschönigen trachtet.

Eine Schwierigkeit ist, die Listen in aussenpolitischen Verhandlungen dem eigenen Souverän nicht erklären zu können:

Zum Beispiel die Verhandlungen mit der EU über die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe: Wir begannen mit Fr. 600.-- und endeten bei 320.-- für die Referenzstrecke Basel-Chiasso. Das wird heute noch als ein Nachgeben empfunden. Nicht einmal die jedem Teppichkäufer geläufige List des Feilschens wurde von den Medien begriffen und somit auch von einem Teil des Souveräns nicht.

Das zeigt: Die List entsteht im Dunkeln, sie muss dem Verhandlungspartner oder dem Gegner verborgen bleiben. Deswegen tut sie sich schwer mit dem Licht, mit der Offenheit. Wird sie dem Partner erklärt, bleibt sie wirkungslos. Aussenpolitik und demokratische Transparenz über jeden einzelnen Verhandlungsschritt stehen deshalb in einem Gegensatz. Das ist der Grund, weswegen aussenpolitische Verhandlungen oft geheim geführt werden.

Genau aus diesem Grund kann ich an dieser öffentlichen Veranstaltung nicht offen legen, zu welchen Kunstgriffen eine Regierung im Umgang mit den Medien gezwungen wird. Darum hier nur ein unverfängliches Beispiel: Um vor Indiskretionen sicher zu sein, empfiehlt es sich, alles und jedes ins Internet zu stellen. Glaubt dann ein Journalist, etwas Geheimes entdeckt zu haben, können wir ihn auf das Internet verweisen und so die Bombe entschärfen.

Wie aber steht es mit der List der Regierung gegenüber ihrem Souverän?

Die Regierung hat dem Wohle des Volkes zu dienen und hat dieses nicht zu bevormunden, denn das eigene Wohl bestimmt das Volk. Hat die Regierung eine Vorlage in einem Referendum zu vertreten, will sie die Stimmbürger von ihrer Meinung überzeugen. Dazu darf sie - ich betone erneut die Wertneutralität der List! - auch listig vorgehen. Diskussionen um Salamitaktik, Multipack, Paarungen von Abstimmungsvorlagen gehören zu den listigen Überlegungen und finden ja in aller Öffentlichkeit statt.

Die Salamitaktik ist im Übrigen ethisch begründbar: Einen ganzen Salami kann niemand in einem Male verschlingen.

Doch aufgepasst: Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort: "Wenn Ihr für die Jagd den ganzen Wald niederbrennen lasst, werdet Ihr dieses eine Mal viele Tiere erlegen. Später aber wird es keine Tiere mehr geben. Wenn Ihr dem Volk mit List begegnet, werdet Ihr ein einziges Mal Nutzen daraus ziehen, aber ein solches Vorgehen kann nie mehr wiederholt werden."

Demokratische Politik ist immer öffentlich. Also muss eine List nachträglich immer erklärt und legitimiert werden können.

Die Stimmbürger wollen nicht überlistet werden.

Österreich gab Millionen aus für seine EG-Beitritts-Werbung. In der Schweiz wäre das nicht möglich. So wurde sogar eine Plakatserie für die damals kaum bestrittene Totalrevision der Bundesverfassung gestoppt. Ein Argument gegen solche Werbung sind die Steuergelder, doch hält es einer näheren Prüfung nicht stand: Die Mehrheit des Parlamentes oder der Regierung setzen sich auch mit anderen Ausgaben über eine Minderheit hinweg. Weshalb soll Werbung also anders behandelt werden als irgendein Bauprojekt? Es geht bei der Werbung vielmehr um die Angst, sie sei listig, man werde übertölpelt. Zwar steht dahinter die Überhöhung der Vernunft, der sich jeder mächtig fühlt, gegenüber den Emotionen, wo sich jeder schwach und angreifbar fühlt.

Dennoch, ganz ohne Werbung, ohne zumindest rhetorische Verführung kommt keine Demokratie aus.

Jenseits der List

Die List gehört zur Beziehung unter Menschen, sie gehört zur Diskussion und zur Demokratie. Wer die List gebraucht, hält sich ja an Spielregeln.

Wer jedoch Normen verletzt, sei es das Gesetz, sei es die Moral, seien es Konventionen, Vereinbarungen, bedarf der Kunst der List nicht mehr, er verlässt sich auf seine Muskeln oder seine Waffen:

•·        Ist die Todesstrafe nicht auch der Verzicht auf Resozialisierung, auf die Auseinandersetzung mit den Abgründen der menschlichen Seele mit ihrem Wechselspiel zwischen Gut und Böse, mit dem Eingeständnis, dass beides in jedem Menschen ist?

•·        Ist Guantanamo nicht auch der Verzicht, sich den Normen der Genfer Konvention und dem Gebot der Menschenrechte auch in einer schwierigen Zeit zu stellen?

•·        War der Einmarsch im Irak nicht auch der Verzicht, sich der Auseinandersetzung mit der UNO zu stellen? Was war List und was Arglist, als die Massenvernichtungsmittel beschworen wurden, war die Suche nach ihnen eine List, um die nachherigen Kriegshandlungen zu erforschen, war die spektakuläre Befreiung einer amerikanischen Soldatin aus einem irakischen Spital eine Arglist zur Heldeninszenierung? Jedenfalls ist das Ganze ja die Folge einer früheren List, nämlich den Irak gegen den Iran aufzurüsten.

•·        Und führt letztlich nicht eine blutige Spur direkt von den Todeszellen in Texas zu Abu Ghraib? Eine Spur, in welcher die Kunst der List nirgends zu sichten ist?

Diesseits der List

Doch ich will als Schweizer Politiker den Zeigefinger auch in die andere Richtung recken.
Ist jenseits des Reiches der List die Arglist, die Lüge und schliesslich die Gewalt, so ist diesseits der List die dumpfe Teilnahmslosigkeit, die soziale Apathie.

Dürrenmatt nannte die Neutralität der Schweiz eine List, um zu überleben.

Daran sehen wir wieder, dass die List der wertneutrale Kunstgriff eines Zieles ist, über dessen Legitimität wir diskutieren können. Sich aus dem Streit der Grossmächte zu halten, ist gewiss ein legitimes Ziel. Die Neutralität kann aber auch ins Parasitäre kippen, wenn sie zur Umgehung von Boykotten der Weltengemeinschaft dienen sollte, oder wenn Fluchtgelder listig damit legitimiert werden sollten, man wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten mischen. Sich nicht einmischen, nicht teilnehmen an der Verantwortung, die wir für die Weltengemeinschaft haben, ist das Gegenstück zum selbsternannten Weltpolizisten, ja sie ist diesem gar nicht unähnlich. In der dumpfen Teilnahmslosigkeit gibt es die Kunst der List genau so wenig wie in der selbstherrlichen Überheblichkeit. So wie die Aufklärung die Einmischung des Citoyens in die Angelegenheit des Staates forderte, so ist heute die Teilnahme aller Staaten am Schicksal der Welt gefordert (CO2, Friede).

Die List als Kunst, die Gesellschaft zu gestalten

Die Menschen schaffen sich Regeln dafür, wie sie miteinander umgehen, gesetzliche und moralische Regeln. Die Moral bildet sich aus dem ewigen Grundwasser der Religionen, dem Glauben, der Erziehung, der Lehren und Traditionen.

Sind vielleicht gar die Lehren der Religionen auch eine List? Ist es List, die Menschen an ein Jenseits glauben zu lassen, damit sie sich im Diesseits verträglich benehmen? Ist es eine List, die Menschen an ein jüngstes Gericht glauben zu lassen, damit sie das Leben in Demut und sozial verträglich gestalten? Eine göttliche List? Eine menschliche List? Es wäre jedenfalls eine List mit einem wahrhaft paradiesischen Ziel, eine List, die wir - sollte es eine sein - am besten gar nicht entlarven möchten, auf dass sie sich erfolgreich entfalten kann. Ergründen wir diese Frage also besser nicht, so wie wir uns vom Baum der Erkenntnis auch fernhalten.

Die List gehört jedenfalls zur Kunst, wie wir Menschen untereinander umgehen.

Doch: Wann ist welche List legitim?

Gibt es eine Ethik der politischen List? Jede Anleitung zu zwischenmenschlichem Verhalten markiert die Bandbreite der zulässigen Listen, die zehn Gebote in Talmud und Bibel, der achtfache Pfad im Buddhismus, die fünf Säulen im Koran.

Doch die Lackmusprobe aller ethischen Regeln zeigt sich erst bei den konkreten Einzelentscheiden. Ausschlaggebend ist immer die Praxis.

Ich erzähle Ihnen daher gerne den weiteren Verlauf der Verkehrspolitik am Gotthard. Vieles habe ich selber erlebt. Soweit sie in der Zukunft liegt, basiert sie auf einer Vision des Schweizer Schriftstellers Daniel de Roulet.

Von Listen am Gotthard (Fortsetzung)

Viele Jahre nach der Teufelsbrücke am Gotthardpass konstruierte eine spätere Generation den Autotunnel.

Es gab warnende Stimmen, der Teufel werde sich auch hier seinen Zoll holen. Aber die Ingenieure lachten und sagten, der Teufel fahre schliesslich selber gerne Auto, gegen einen Autotunnel habe er sicher nichts.

Vorsichtshalber bauten sie dann aber doch nur eine Röhre.

Doch den Teufel selber hat niemand gefragt.

Bei der Autobahneröffnung 1977 musste ein Brocken für 300'000 Franken verschoben werden. Es war der Fels, den der Teufel - nachdem er, Jahrhundert zuvor, betrogen wurde - den Berg hinabgeschmettert hatte.

Dieser liebt es nicht, wenn man ihm an den Berg geht. Und der Teufel hat Zeit.

Im Spätherbst des Jahres 2001 sorgte er für einen furchtbaren Unfall im Tunnel. Ein Lastwagen fuhr auf die Gegenseite, es brannte, es gab Tote und Verletzte.

Der schweizerische Bundespräsident eilte zur Unfallstelle. Es gibt Filmdokumente, die belegen, dass er nach seinem Besuch im Tunnel aschgrau und bleich in die Mikrophone hauchte: "Ich war in der Hölle."

Das hat niemand wörtlich genommen. Der Präsident hatte in jenem Jahr viele Katastrophen zu besuchen und in Worte zu fassen, und so dachten die Leute: Er hat sich eben etwas blumig ausgedrückt, um so die richtigen Worte zu finden.

Was niemand wusste:

Als der Präsident in den Tunnel trat und schaudernd in die russigen und rauchigen Wracks blickte, trat aus dem schwarzen Aschennebel zwischen den völlig ausgebrannten Lastwagen der Teufel auf ihn zu:

"Das hier", sagte er, "ist meine Rache für den Autotunnel. Doch jetzt sehe ich, dass Ihr begonnen habt, einen Basistunnel unter meinem Berg zu bauen. - Darf ich fragen, mit welchem Recht?"

"Das ist der NEAT-Basistunnel. Er wird Hochgeschwindigkeitszügen dienen. Wir haben darüber abgestimmt. Wir sind eine Demokratie."

"Ich erhielt kein Stimmcouvert. Was bekomme ich dafür?"

"Du darfst das Schweizer Bürgerrecht erhalten. Dann kannst du das nächste Mal bei der zweiten Röhre auch abstimmen."

"So, das Schweizer Bürgerrecht, um abzustimmen und zu wählen? Brauch ich nicht. Ich habe dasjenige der EU. Nein, ich will meinen Teil!"

Den Präsidenten durchzuckte ein Verdacht: Will der jetzt auch noch in den Bundesrat?

Doch der Teufel fuhr fort: "Ihr Menschen nehmt euch ohne zu fragen euren Teil an meinem Berg, um Zeit zu gewinnen. Wie viel Zeit gewinnt ihr eigentlich mit diesem Basistunnel?"

"Wir werden in knapp drei Stunden von Zürich nach Mailand fahren können. Von Arth Goldau bis Bellinzona braucht man heute 1 Stunde und 40 Minuten, nachher nur noch 40 Minuten. Wir gewinnen also eine Stunde."

Verächtlich spuckte der Teufel in Richtung Präsident. (Später hat er es abgestritten.  Er wusste, dass niemand filmte.)

"Wieso wollt ihr Menschen eigentlich immer schneller an andere Orte fahren? Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Die Zeit, die Ihr gewinnt, ist gestohlen, von meinem Bergesinnern gestohlen, mir gestohlen. Ich hab es nicht gern, wenn man mir an den Berg geht. Mit dem Basistunnel stehlt ihr eine Stunde. Ich will von jedem Bahnfahrer, der mit dem ersten Zug durch den Tunnel fährt, diese erste Stunde."

Der Präsident dachte nach: Wenn ich auf diese Weise ein späteres Unglück verhindern kann, dann muss ich dem Teufel jetzt entgegen kommen. Aber ich muss verhandeln. Man sagt mir ja immer wieder, ich sei zu weich.

"Eine Stunde? Viel zu viel! Eine Minute höchstens."

Es begann eine lange Feilscherei, 50 Minuten der Teufel, fünf Minuten der Präsident und so weiter, schliesslich der Kompromiss: 15. Der Präsident achtete auf die genaue Formulierung: fünfzehn, das war die Abmachung.

Aber ruhig schlafen konnte er von da an nicht mehr.

Jenen, die ihn besser kannten, fiel auf, dass er seit jenem Jahr stiller geworden war, nur noch selten lachte er; irgendwie schien ihn etwas zu bedrücken.

Viele Jahre später nahte die Eröffnung des Tunnels. Der Bundesrat war damals schon zurückgetreten, aber man bat ihn doch, eine Rede zu halten. Früher waren seine Reden recht beliebt, aber mit dem Alter wurde er etwas tatterig und so liess man  ihn nicht gerade bei der Eröffnung selber sprechen, aber doch vom Gepäckwagen aus via Lautsprecher. Die Organisatoren dachten sich: Die kann man ja dann etwas leiser oder ganz abstellen, wenn er wieder all zu moralisch wird und vom ewigen Grundwasser der Religionen zu sprechen beginnen sollte.

Der grosse Tag kam. Er wurde auf den 1. August gelegt, den Tag nach der traditionellen Schlussveranstaltung der weltberühmten Sommer School von Ittingen. Tausende von Teilnehmern strömten heimwärts in alle Kontinente des Globus. Einige von ihnen waren an die Eröffnungsfahrt eingeladen.

Denn all die ganz Grossen sind gekommen, diejenigen, welche die Geschicke dieser Welt leiten:

Sportmoderatoren, Talkmaster, Schönheitsköniginnen, der Gouverneur von Kalifornien.
Alle halten sie ein Champagnerglas in den Händen und reden angeregt durcheinander, als aus dem Lautsprecher die Stimme des alt Bundesrates ertönte. Sie ist mit dem Alter noch höher und zittriger als früher geworden:

"Verehrte Gäste, wir befinden uns jetzt gerade exakt unter der berühmten Teufelsbrücke. Genau hier, viele hundert Meter über uns, wurde im letzten Jahrtausend ein Geissbock geopfert. Ich möchte Sie höflich ersuchen, fünfzehn Minuten dieses Geissbockes zu gedenken."

Niemand versteht, was das soll, doch niemand wagt, etwas zu sagen. Nervös starren alle auf das Remake einer SBB-Uhr mit jenem roten Sekundenzeiger, der nach jeder vollendeten Minute einige Zehntelssekunden wartet, bevor er weiter springt.

Die Minuten vergehen mit lähmender Langsamkeit.

Die letzten Sekunden sind eine wahre Folter.

Endlich sagt der alt Bundesrat durch den Lautsprecher: "Ich danke Ihnen."

Der Zug fährt aus dem Tunnel. Entsetzt schauen sich alle gegenseitig an.

Alle sind um fünfzehn Jahre gealtert. Jetzt hatte der Talkmaster plötzlich eine Glatze, die Sportredaktoren Schuppen, die Fernsehmoderatorinnen Falten im Gesicht.

Aus der Menge der Greisinnen und Greise löst sich die Kondukteurin. Als einzige ist sie jünger und nicht älter geworden. Sie geht auf den alt Bundesrat zu:

"Weißt Du noch, damals im Tunnel?" sagt sie. "Jetzt habe ich die vereinbarte Zeit von all diesen Erstfahrern genommen, von jedem fünfzehn Jahre, so wie wir es damals vereinbart haben."

"Wir sagten fünfzehn Minuten, nicht fünfzehn Jahre!"

"Wir sagten bloss fünfzehn, ohne genaue Zeiteinheit. Und überhaupt: Minuten, Jahre, kommt das so drauf an? Beim Vertrag um die Teufelsbrücke habt ihr es auch nicht so genau genommen und habt mir einen Geissbock statt einen Menschen geschickt.

Ich liebe es nicht, wenn man mir an den Berg geht. Aber ich habe Zeit. Jetzt hab ich wieder viel Zeit."

Die junge Frau verschwand in der Menge der uralten Leute. Ihre Blicke folgten der jungen Frau, glitten ihrem schlanken Körper entlang zu ihren Beinen. Die Frau hinkte ganz leicht. Und da sahen sie ganz deutlich: Ihr linker Fuss war ein zweigeteiltes Ziegenhuf.