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Braucht der Staat den lieben Gott


3. 2. - „Cours public 2005: Religion et société” der Universität Lausanne,

Das ist eine Frage nach den Grundlagen unseres Staates, und deswegen haben Sie folgerichtig den Infrastrukturminister eingeladen. Für fast alles verfüge ich über ein Amt, für Strassen, Tunnel, Flughäfen, Energie, die letzte Meile, für Wälder und Landschaft. Doch ausgerechnet für die göttliche Infrastruktur habe ich kein Amt, das mir den heutigen Auftritt hätte vorbereiten können. Und so habe ich mich selber inspirieren lassen - während der Weihnachtszeit.

Am 26. Dezember - die Sonntagszeitungen bleiben uns auch an Weihnachten nicht erspart - habe ich in einem Artikel unseres ehemaligen Botschafters in den USA, Alfred Defago, gelesen, dass dort traditionelle christliche Gebräuche aus dem öffentlichem Leben verbannt würden. So darf der Weihnachtsbaum nicht mehr "Christmas Tree" heissen, sondern muss neutral "Holiday Tree" genannt werden. Ein Bürgermeister in Massachusetts habe sich entschuldigt, weil er "irrtümlich" zu einer "Christmas Party" eingeladen hatte. Das sei "politically incorrect" gewesen, denn das christliche Adjektiv könne Nichtchristen verletzen.

Schwappt diese Hysterie von political correctness auf Europa über? Ja, wie es scheint. In Treviso sei in einer Schule die Weihnachtsgeschichte durch das Rotkäppchen ersetzt worden. Und im nordfranzösischen Coudekerque-Branche hat man einem Sankt Nikolaus verboten, Süssigkeiten zu verteilen. Er habe den Laïzismus verletzt, weil die Schokoladepapierchen einen Samichlaus samt Messbuch und Bischofsstab zeigten!

Besorgt fragen wir uns: Wird in der Schweiz demnächst der Name Jean-Noël verboten? Darf er im Nationalrat bleiben? Oder wird ein Bundespräsident künftig zur Neujahrsansprache nicht mehr an einem Weihnachtstännlein vor dem Lötschbergtunnel reissen dürfen? Sollten wir Wörter wie "à dieu" nicht mehr gebrauchen und müssen selbst dann "au revoir" sagen, wenn wir die Person am liebsten gar nie mehr sehen möchten?

Erfordert die Rücksichtnahme auf andere Religionen tatsächlich den Verzicht darauf, eigene religiöse Gebräuche öffentlich zu zelebrieren?

Hinter solchen Fragen und Forderungen steckt eine falsch verstandene religiöse Toleranz.

Toleranz heisst:

- Wir haben eine eigene Überzeugung und stehen dazu.

- Wir verteidigen unsere Überzeugung gegenüber einer anderen Überzeugung und wenn wir die andere Meinung als unrichtig erachten, bringen wir dies auch zum Ausdruck.

- Dennoch respektieren wir die andere Meinung.

- Aber: Wir tolerieren nicht alles. Es gibt Grenzen. Toleranz ist nicht grenzenlos, sonst verkommt sie zur Beliebigkeit.

Die Toleranz gegenüber Andersdenkenden oder Andersgläubigen bedingt allerdings, dass diese ebenso Toleranz üben. Die entscheidende Frage ist deswegen, wo die Grenzen der Toleranz gezogen werden. Welche Toleranzgrenzen ziehen Angehörige der einen Religion gegenüber der anderen?

Der Staat garantiert die Religionsfreiheit. Folglich ist es auch der Staat, der die Grenzen der Toleranz festlegen muss:

- Das schweizerische Recht toleriert zum Beispiel das Schächten nicht.

- Das Kopftuch tolerieren einzelne Kantone - etwa der Kanton Genf - für die Lehrerin an einer öffentlichen Schule nicht, und

- das Bundesgericht hat das Aufhängen eines Kruzifixes in der obligatorischen Staatsschule verboten.

- Nach dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh wird diskutiert, ob Imame nur noch in der Sprache des Aufenthaltslandes predigen dürfen und ob sie ihre Ausbildung in einem europäischen Lande absolvieren müssen.

All diese Fragen sind die Folge einer multikulturellen Realität, mit der viele demokratische Staaten heute konfrontiert sind. Die Grundfrage hinter den politischen Einzelproblemen heisst: Nach welchen Kriterien entscheidet der Staat solche Fragen? Welches ist die Grundlage dieser Kriterien? Braucht es für die Entscheidung einen Gott?

Verwechseln wir zunächst einmal nicht die Frage: "Braucht der Staat einen Gott?" mit: "Braucht der Mensch einen Gott?"

Die zweite Frage hat indirekt zwar eine grosse politische Bedeutung, dennoch muss sie jeder nach seinen eigenen Überzeugungen beantworten.

Wer bei der Flutwelle in Südostasien nach naturwissenschaftlichen Ursachen forscht, kommt zu anderen Schlüssen als diejenigen, die darin eine Strafe Gottes erkennen. Doch selbst kühle Rationalisten fragen sich nach dem Seebeben, ob ein Weltbild, das alles für machbar hält, unserer condition humaine wirklich angemessen ist. Und diese Frage rührt durchaus an das religiöse Grundverständnis. Aber es ist die Frage, die sich der einzelne Mensch, der Staatsbürger stellt. Je nach seiner Antwort stört er sich an der mangelnden Alarmorganisation und ist überzeugt, Menschen hätten die Katastrophe verhindern können. Und so beschimpft er deswegen andere Menschen und Behörden, oder aber er fällt in Demut und denkt über den Sinn des Lebens nach.

Braucht umgekehrt der Staat Gott?

Unser Staat braucht Gott nicht. Die Schweizerische Eidgenossenschaft ist kein Gottesstaat. Das Bundesgericht hier in Lausanne fällt - Gott sei Dank - keine Gottesurteile. Wenn wir im Parlament ein Gesetz ausarbeiten, versuchen wir, die Sprache des Verstandes zu sprechen, den Pfaden der Logik zu folgen und uns gegenseitig mit Argumenten zu überzeugen - oder zumindest mit dem, was wir für Argumente halten. Da spielen gewiss auch Emotionen mit, das Herz, der Bauch, das gehört alles auch zur Politik. Doch es ist nicht die Bibel, auf die sich ein Parlamentarier bei der Gesetzesarbeit beruft, nicht der Glaube (und auch wer an die freie Marktwirtschaft glaubt, ist überzeugt, er folge einzig und allein seinem Verstand). Und bezüglich der Exekutive schliesslich bezweifle ich, dass eine Regierung, die vor jeder Sitzung ein Gebet spricht, bessere Entscheide fällt - wobei ein Stossgebet gelegentlich doch sehr nützlich ist.

Anders formuliert heisst das: Die politisch Verantwortlichen können sich heute - im Unterschied zu den früheren Königen und Kaisern - nicht mehr legitimieren, indem sie sich auf Gott berufen. In einer Demokratie müssen sie sich auf die Verfassung und den Souverän, das Volk abstützen.

Diese Konzeption von Politik ist das Ergebnis der Aufklärung, die staatspolitisch in der Französischen Revolution gipfelte. Die Aufklärung war kein Bekenntnis, sie machte keine Aussage über Gott oder gegen Gott. Wohl aber formulierte sie eine Erkenntnis: Jene, die im Staat die Macht innehaben und ausüben, schanzten sich nur allzu oft mit Berufung auf Gott Sonderrechte zu. Das darf nicht sein. Darum muss alle Macht begrenzt, aufgeteilt, legitimiert und kontrolliert werden. Begrenzt auf die irdischen Dinge, aufgeteilt auf Gesetzgebung, Regierung und Gericht, legitimiert durch die Verfassung und kontrolliert durch das Volk, den öffentlichen Diskurs und die Medien.

Es gibt religiöse Menschen, die mit einer solchen Gott-losen Konzeption des Staates Mühe bekunden. Und es gibt Staaten, die eine ähnliche Revolution wie die Französische nicht durchgemacht haben. Ihnen gegenüber ist klarzustellen, dass diese Staatskonzeption keineswegs ein Bekenntnis für oder gegen Gott impliziert. Sie beinhaltet lediglich die allerdings fundamentale Forderung an diejenigen, die im Staat Macht ausüben, dass sie ihre Macht rational legitimieren.

Welches aber ist die Funktion der Religion in diesem Prozess? Die Religionen, die uns und damit unsere Gesellschaft und unseren Staat prägen, bilden eine elementare Grundlage, auf welcher der Staat aufbaut. Christliche, jüdische und zum Teil muslimische Lehren und Anschauungen haben für unseren Staat ebenso ihre Bedeutung wie die Ideen der Aufklärung. Der heutige westliche Staat ruht auf beiden Säulen.

Das heisst konkret: Der Staat wäre allein nicht in der Lage, eine Gesellschaft der Toleranz und des gegenseitigen Vertrauens und Respekts zu garantieren. Werte wie Treu und Glauben im Geschäftsverkehr kann keine Polizei erwirken. Es braucht das Grundwasser der Moral. Ihre Quelle speist Tradition, Erziehung und die individuelle Prägung des Gewissens. In diesem Prozess spielen die Kirchen und Religionen eine wichtige Rolle.

So besteht eine gegenseitige Ergänzung und Abhängigkeit zwischen Staat und Religionen: Der liberale Staat garantiert den Religionsgemeinschaften die Religionsfreiheit. Die Religionen stützen und gestalten durch ihr Ethos das Zusammenleben in der Gesellschaft. Sie vermitteln ihren Gläubigen moralische Regeln. Verbindendes Fundament von Religion und Staat bilden die Menschenrechte.

Diese Symbiose erlaubt dem Staat, sich freiheitlich zu organisieren.

Was uns zur Frage führt, ob Kirche und Staat miteinander verwoben oder ob sie voneinander getrennt sein sollen.

Das Verhältnis von Religion und Staat hat in jeder Kultur seine eigenen Voraussetzungen. Die römischen Kaiser unterdrückten und verfolgten die Christen lange Zeit als Sekte. Im 4. Jahrhundert wurde das Christentum jedoch zur Staatsreligion.

Erst im 18. Jahrhundert leitete die Aufklärung die Trennung von Kirche und Staat ein, sie wird aber nur in wenigen Ländern konsequent durchgeführt, in Frankreich zum Beispiel. In der Schweiz ist die institutionelle Verflechtung bzw. Trennung von Kanton zu Kanton verschieden. Diese Verflechtung weist beinahe alle Grade und Schattierungen auf, einmal hilft der Staat die Kirchensteuern einzutreiben, ein andermal sind die Pfarrer auf der staatlichen Lohnliste, wieder anderswo ist die Trennung radikal vollzogen wie in Genf.

Überschätzen wir diese Frage der Trennung von Kirche und Staat nicht, denn Religion und aufklärerisches Denken sind in Wirklichkeit viel näher als wir das theoretisch oft wahrhaben wollen.

Der Glaube an die menschliche Vernunft und der Glaube an eine göttliche Offenbarung haben sich zwar in vergangenen Jahrhunderten manche Schlacht geliefert. Heute erkennen viele, dass sich religiöse Menschen und Agnostiker unserer Gesellschaft gemeinsam stellen müssen und dass Vernunft und Glaube sich seit je gegenseitig durchdrungen haben und sich wohl auch künftig ergänzend entfalten müssen.

Von den vielen geistigen Grundlagen für unsere Gesellschaft, auf denen unser Staat aufgebaut ist, ist eine die Anweisung, durch die dialektische Diskussion von Zielkonflikten zu einer Lösung zu kommen. Auch sie findet eine Grundlage in unserer Religion:

- Es gibt vier verschiedene Evangelien, welche im Gegensatz zu einer einzigen heiligen Schrift eine gewisse Dialektik bedingen.

- Der Glaube ist nicht die einzige, sondern eine von drei Dimensionen und ausdrücklich nicht die wichtigste. Paulus schreibt im Korintherbrief den wunderbaren Grundsatz: "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am grössten unter ihnen aber ist die Liebe".

- Die PR Berater der Aufklärung dürften den Slogan "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nicht ohne Seitenblick auf die Trinität "Vater, Sohn, heiliger Geist" formuliert und so bewusst eine Anlehnung an einen geläufigen religiösen Begriff gesucht haben. Die kühle ratio brauchte da dann doch etwas himmlische Wärme.

- Auch die Nachhaltigkeit mit den in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden Zielen von Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialverträglichkeit übernimmt diese Anleitung, den menschlichen Verstand zur Lösung eines Zielkonfliktes zu gebrauchen und nicht nur auf den eindimensionalen Glauben zu bauen.

In der Tagespolitik ist die Frage umso weniger von grundsätzlicher Bedeutung, als sich die Diskussionen um Trennung von Kirche und Staat im Wesentlichen nur um zwei Fragen drehen:

- Einerseits geht es um die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften durch den Staat. Diese Anerkennung kann ein Instrument der Integration und damit ein Beitrag zum religiösen Frieden sein. Doch zeigte sich in kantonalen Abstimmungen, dass sich der Souverän in Religionsfragen oft durch fremdenfeindliche Polemiken beeinflussen lässt - was die Integration neuer Religionsgemeinschaften verhindert.

- Andererseits geht es um die Steuern. In Zürich verlangte in den 90er Jahren eine freisinnige Initiative die gänzliche Trennung von Kirche und Staat. Anlass war das politische und soziale Engagement der Kirchen, das man bestrafen wollte, ganz ähnlich wie das Parlament soeben die Pro Helvetia für die Ausstellung Hirschhorn in Paris bestrafte. So sahen sich damals die Kirchen im Kanton Zürich, die bei der bisherigen Lösung bleiben wollten, plötzlich von all denjenigen linken Kreisen unterstützt, die sie in den 68er Jahren - ebenfalls aus politischen Gründen - verlassen hatten. Dass die Kirchen dabei vor allem mit finanziellen Gründen für die bisherige Verflechtung argumentierten, ist zwar ehrlich, aber doch bedauerlich. Aus kirchlicher Sicht wäre eine Trennung vom Staat sehr wohl zu begründen, weil die Kirchen sich von ihrer Bestimmung her nicht auf die weltliche Macht stützen und sie auch nicht repräsentieren dürfen. Ihr Herr, Jesus Christus, ist machtlos am Kreuze gestorben.

Der Grad der Verflechtung bzw. Trennung zwischen Kirche und Staat macht letztlich aber so wenig einen Unterschied wie die Frage, ob eine Verfassung in der Präambel auf Gott verweist oder nicht.

Die schweizerische Bundesverfassung nimmt ausdrücklich Bezug auf Gott. Ebenso die Nationalhymne, nur kennt diese niemand. Die Verfassung der EU hingegen nimmt keinen solchen Bezug. Doch die kulturelle und geschichtliche Verflechtung zwischen Religionen und Staat prägen die Politik unabhängig davon, wie die Verflechtung institutionell geregelt ist. Religiöse Traditionen und Prinzipien prägen die Gewissen und das Verhalten vieler Menschen und bilden so Säulen der Gesellschaft und des Staates.

Die Bedeutung der Religionen für die Führung des Staates zeigt sich darin, dass es kaum ein Gegenwartsproblem gibt, das nicht an den Kern des moralischen Bewusstseins rührt. Diese Probleme lösen darum in den Kirchen und Religionsgemeinschaften häufig ethische Debatten und Analysen aus, die gleichzeitig auch einen Teil des demokratischen Diskurses bilden.

Das gilt nicht nur

- für Flüchtlinge,

- für Sans papiers,

- für die Sterbehilfe,

- die Stammzellenforschung und die Gentechnologie,

sondern auch

- für unser Verhältnis zu Europa

- oder für die Verwendung der Goldreserven,

ja sogar

- für die Sicherheitsstandards in Eisenbahntunneln

- und für die 0,5 Promille-Grenze.

Es ist nicht die Aufgabe der Kirchen, auf diese Fragen pfannenfertige Antworten oder gar Parolen zu liefern. Vielmehr beteiligen sie sie sich am Diskurs und schärfen das Gewissen derjenigen, die entscheiden. Auch sie arbeiten mit der Überzeugungskraft sachlicher und vernünftiger Argumente Sie wissen, dass keine religiöse Eingebung sie als Mitglieder der Kirche vor Fehlurteilen schützen kann und dass nichtchristliche Mitbürger oder solche, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, mit ihrer Politik den Forderungen des Evangeliums gelegentlich näher sind als die so genannt "guten Christen".

Eine solche Sicht hat Konsequenzen. Religiöse Menschen, die von einer Toleranz gegenüber Menschen anderen Glaubens oder anderer Überzeugung durchdrungen sind und sie wirklich leben, müssen auf ihre Traditionen und Gebräuche im öffentlichen Leben nicht verzichten, seien diese nun christlich oder jüdisch oder muslimisch, hinduistisch, buddhistisch oder was immer. Es tut unseren Gesellschaften gut und es ist für unsere Demokratien unerlässlich, dass solche Bräuche und Traditionen Anlass geben, sich mit Fragen der Religion auseinander zu setzen. Wie denn sonst soll Toleranz eingeübt, wie der Streit um Werte geführt werden? Und auf beides ist der Staat dringend angewiesen.

Daraus folgern wir: Lasst uns um Gottes Willen weiterhin den Sankt Nikolaus spielen und das Krippenspiel aufführen. Wer weiss, vielleicht tun wir dies ja auch im Bundesrat. Doch verrate ich Ihnen nie, wer den Sankt Nikolaus und wer den Esel spielt. Kollegialität verpflichtet.