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Theater Konstanz


Theater Konstanz
Eröffnung der Spielzeit 12/13
Kreuzlingen, 4. Oktober 2012

Theater Konstanz

Das Theater Konstanz kommt recht in der Welt herum, es war in Berlin, im Irak, in Malawi, aber jetzt setzt es zum ganz grossen Sprung an, über die Grenze der Grenzen, tief hinein in die Schweiz, nach Kreuzlingen. Allerdings beginnen Sie dermaßen  weit in der Fremde vorsichtig und spielen zunächst nur mal ein „Theater ohne Worte“. Als Kontrast dazu laden Sie einen Vertreter derjenigen Theatergattung ein, die nichts anderes produziert als Worte, einen Politiker. Und obwohl also ein Politiker im Publikum sitzen wird, spielen Sie nicht Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“.

Auch nicht  seinen „Ritt über den Bodensee“, sondern als Auftakt zum Leitmotiv Ihrer Spielzeit „Borderline: Deutsche Heimat, Schweizer Berge“ spielen Sie: „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten.“

Ich habe allerdings manchmal das Gefühl, dass wir trotz der Landesgrenze sehr viel voneinander wissen.

Viele Schweizer kennen die Fleischpreise in Konstanz so gut, dass mancher Konstanzer sich an Samstagen gar nicht mehr in der eigenen Heimat fühlt.

Deswegen buhlt nun die Migros um die Deutschen und hat dazu ihr Verkaufssortiment ergänzt mit Lieblingsprodukten der Deutschen, die mit ihrer deutschen Heimat im Herzen in den Schweizer Bergen leben. Zum Tag der deutschen Einheit vor zwei Tagen warb sie mit einem Inserat: „Norbert und die feinen Knusperbretzel von Huober - in der Migros wiedervereint.“ Soweit zum „unseren Beitrag zur deutschen Einheit“.

Über Brezelkonsum, Benzinpreise, Flugrouten sind wir gegenseitig recht gut informiert, auch über Steuerdaten. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, auch beim Bankgeheimnis bald noch mehr, obwohl da noch etwa damit gedroht wird, man werde sich die Zähne ausbeissen. Doch die Anwohner des Rheins wissen: Panta rhei.

Manchmal wissen wir über die Nachbarn sogar besser Bescheid als diese selber. Von unserem Endlager für nukleare Abfälle erzählte eine Bundestagsabgeordnete über angebliche schweizerische Pläne, von denen ich als Energieminister zwar wusste, dass sie gar nicht bestehen. Aber das half gar nichts. Sie wusste es einfach besser.

Das kommt in der besten Familie vor und zwischen Nachbarn ohnehin.

Nachbarn heisst ja wörtlich „nahe Bauern“ und dieses Bauern klingt ja heute noch in Ausdrücken nach wie „Kuhschweizer“ oder „Sauschwaben“, alles freundnachbarliche Referenzen an die Landwirtschaft. Das ist auch heute noch so:

-       Arbeitet ein typischer Schweizer mal in Deutschland, heisst er sicher Ackermann.

-       Vor wenigen Tagen hat ein Koch eine Kartoffelkanone über die Grenze nach Deutschland gebracht und dort wurde von ihm ein Waffenschein verlangt, den er nicht hatte und also wurde die Kartoffelkanone beschlagnahmt.

Zu Grenzproblemen kommt es immer wieder:

-       So bauten unsere beiden Länder vor wenigen Jahren in Laufenburg eine Brücke über den Rhein. Die Ingenieure stellten mit deutscher und schweizerischer Gründlichkeit ihre Berechnungen an, die auf der Meereshöhe basieren, dann wurde auf beiden Seiten des Rheins gebaut. Es ergab sich ein Höhenunterschied von 27 cm. Ein Rätsel. Die Berechnungen stimmten, aber die Differenz blieb. Es lag an der Meereshöhe. Wir in der Schweiz berechnen sie ab dem Mittelmeer, Sie in Deutschland berechnen sie ab der Nordsee. Wir hätten eben als gemeinsamen Ausgangspunkt das Schwäbische Meer nehmen sollen; dann gäbe es keine Probleme. 

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, das hat der Deutsche Friedrich Schiller dem Schweizer Wilhelm Tell in den Mund gelegt. Wir sind ja beide nicht böse - und vor allem nicht fromm. Wir sind aufeinander angewiesen. Deswegen laden wir uns als Nachbarn gegenseitig ein, besuchen uns, veranstalten ein Seenachtsfest am Bodensee, den einzigen grenzüberschreitenden Flohmarkt der Welt oder eben ein Theater.

So können die vielen Grenzprobleme, die sich notwendigerweise zwischen Nachbarn ergeben, früh erkannt und gelöst werden.

Trotz Steuerstreit und trotz Auseinandersetzungen um das Anflugregime des Zürcher Flughafens können wir ja nicht im Ernst von unlösbaren Konflikten sprechen. Und ich kann auch die Diskussionen um tiefgreifende Wesensverschiedenheiten von Deutschen und Schweizern nicht ganz verstehen, obwohl ich zugeben muss, dass diese Auseinandersetzungen real existieren.

Gegenwärtig gibt es bei uns wieder einmal eine Diskussion über die vielen Deutschen, die in unser Land einwandern und was sie bei uns kulturell verändern und was nicht.

Das ist nicht neu. Nationale Aversionen gegen Zugewanderte aus dem nördlichen Nachbarland gab es immer wieder. Einigen wurde die Einbürgerung verweigert, Paul Klee etwa, auf den wir heute stolz sind.

Ein anderer Zugewanderter ist Albert Einstein, für uns ganz klar ein Schweizer, für Sie ganz klar ein Deutscher. In Wirklichkeit war er beides, und das war für ihn Schwierigkeit und Inspiration zugleich.

Die Schwierigkeit: Weltweit gilt heute noch die Meinung, Einstein sei ein schlechter Schüler gewesen. Ähnlich wie bei der Brücke in Rheinfelden ist das aber auf unterschiedliche Notensysteme zurück zu führen: In der Schweiz ist die Eins die schlechteste, die Sechs die beste Note. Einstein hatte bei uns vor allem 5er und 6er, war also ein guter Schüler, doch Deutschland schädigte seinen Ruf mit seinem unlogischen Notensystem. (Das sei allen Deutschen in der Schweiz, die jetzt ihre Kinder nach Süddeutschland in die Schule schicken, in Erinnerung gerufen!)

Diese Ungerechtigkeit hat ihm gezeigt: Alles ist relativ. Und so hat er die Relativitätstheorie erschaffen. So richtig begriffen hat Einstein sie allerdings erst, als er einmal mit der Bahn von Zürich nach München fuhr und ein Kind auf der Nachbarsbank auf Schwäbisch fragte: „Wann hält eigentlich der nächste Bahnhof?“ Die Bahnstrecke hat seither für die Bayern historische Bedeutung, steht also unter Denkmalschutz und wird daher konsequent nicht elektrifiziert.

Nun geht es momentan nicht allen Deutschen in der Schweiz wie Einstein.

Vor kurzem lancierte die SVP eine aggressive Kampagne und sprach von deutschem Filz, vor allem an Hochschulen. Es gab heftige Reaktionen gegen diese Kampagne, u.a. ganzseitige Inserate sämtlicher Professoren. Zu hören war dann auch der Vorwurf, die Kampagne der SVP sei rassistisch. Zunächst: Rassismus ist ein doch etwas fragwürdiger Ausdruck. Wir sind ja nicht verschiedene Rassen. Mir scheint die Wesensverschiedenheit zwischen Romands und Deutschschweizern oder der kulturelle Unterschied zwischen Stadt und Land zuweilen grösser als der zwischen Deutschen und Schweizern.

Zwar gibt es Unterschiede und diese können zu Spannungen oder Missverständnissen führen. Grösser als die Unterschiede sind aber unsere Gemeinsamkeiten, wir teilen ja sogar dieselbe Muttersprache. Dass wir gegenwärtig die Präsenz von Deutschen in der Schweiz besonders intensiv diskutieren, ist ja in sich schon integrativ. Wir sind uns eben nicht gleichgültig. Wir wissen, Gleichgültigkeit ist das Gegenteil von Freundschaft. Der fehlende Austausch des Wortes hat schon manche Freundschaft vernichtet.

Darum ist sicher gut, dass es Diskussionen in Fernsehen und Radio gibt. Auch morgen werden Sie ja über unser gegenseitiges Verhältnis diskutieren, unter dem Titel „Goldbarren und Gartenzwerge“ (was ist da wohl wem zugeteilt? Falls Sie die Gartenzwerge alleine in Anspruch nehmen wollen, ist das unkorrekt; wir haben auch welche. Und die Heimat unserer Goldbarren ist oft eine deutsche.)

Sie haben, Herr Professor Nix, einen Aufsatz von Paul Parin über den Unterschied zwischen Süddeutschen und Schweizern zitiert, insbesondere die Analyse des unterschiedlichen Verhaltens der jeweiligen Mütter. Ich habe mich auf den heutigen Abend vorbereitet und habe mich dazu eigens mit einem Psychiater auf eine Wanderung begeben und er hat mir von diesem Artikel erzählt. Paul Parin in Ehren, aber das kann ich nicht nachvollziehen, zumindest nicht mehr heute. Der Unterschied zwischen einer Mutter aus dem Tessin und Kreuzlingen ist wohl grösser als derjenige zwischen einer Mutter aus Konstanz und Zürich. Und wenn ich in Zürich Tram fahre, denke ich: Der Unterschied zwischen einer Mutter aus Kosovo, aus Sri Lanka oder aus Senegal und einer Mutter aus dem Thurgau ist doch weit grösser als derjenige  zwischen einer Thurgauer und einer schwäbischen Mutter. Und bedenken Sie: Diese Mütter aus Afrika, Asien und dem Balkan sind im Gegensatz zu den Müttern aus Baden Württemberg alle Schweizerinnen.

Gespräche über unsere Wesensunterschiede dienen gewiss der gegenseitigen Verständigung und doch empfinde ich diese Probleme nicht als unsere wichtigsten.

Das Theater Konstanz weiss seit dem Besuch im Irak und in Malawi:

Auch Staaten, mit denen wir keine direkte Grenze teilen, sind unsere Nachbarn: 

(Ich begann als damaliger Bundespräsident vor einem Staatsbesuch im slowenischen Fernsehen: „Slowenien und die Schweiz sind Nachbarn.“ Sofort wurde das Interview abgebrochen, die Kameralichter gingen aus und von allen Seiten wurde mir gütig zugeraunt: „Es gibt keine Grenze zwischen der Schweiz und Slowenien.“)

In Wirklichkeit ist dank der Globalisierung die Welt dermaßen zusammen gewachsen, dass wir tatsächlich alle zu Nachbarn wurden, das heißt wir sind alle voneinander abhängig, und zwar in einem Ausmaß, das viele irritiert.

Wir sind beide demokratische Staaten. Zwar sind wir eine direkte Demokratie und Sie bilden eine repräsentative Demokratie und gegenwärtig findet ja ein sehr reger Austausch über unsere beiden Systeme statt und darüber, was wir je von einander lernen und übernehmen können und was nicht. In diesen Diskussionen stellen wir beide immer etwas irritiert fest: Es gibt viele wesentliche Grundlagen, über die wir gar nicht mehr selber bestimmen. Das ist gegenwärtig in erster Linie die Eurokrise. Da nützt es der Schweiz gar nichts, dass sie nicht einmal in der EU ist. Die Überschuldungen in Spanien und Griechenland betreffen auch uns. In Deutschland und in der Schweiz wachsen daher die Stimmen, die sagen: Wir leben in Wirklichkeit nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Oligarchie der Bankenwelt.

Die Frage ist aber, welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Wir sprechen die gleiche Sprache, wir pflegen die gleiche Kultur, auch dieselbe politische Kultur und diese basiert auf der Selbstbestimmung, auf Demokratie, auf Föderalismus und auf Solidarität.

Gerade die Zusammenarbeit hier um den Bodensee ist ein Modell für die EU und darüber hinaus. Ich war kürzlich in Polen zum Thema „Neue Strukturen in der EU“ und da wurde für die regionale Zusammenarbeit mit der tschechischen Republik, mit der Slowakei und auch über die EU hinaus, nämlich mit der Ukraine, ausdrücklich auf das Modell der Bodenseekonferenz verwiesen. Wir haben gemeinsam alles, um Europa und die Welt mit zu gestalten.

Nicht Resignation ist daher die Erkenntnis aus den folgen der Globalisierung, sondern Einmischung und zwar politisch und kulturell.

Deswegen war das Theater Konstanz im Irak und in Malawi. Kulturelle und künstlerische Auseinandersetzung ist eine wichtige Infrastruktur der Weltengemeinschaft. Ich will nicht  schwärmerisch oder vor einem theaterinteressierten Publikum kulturpopulistisch werden, denn nicht jede Kunst und nicht alle Kultur wirkt völkerverbindend. Denken wir nur an die Mohammed Karikaturen, deren Urheber die Unverfrorenheit haben, die Meinungsäußerungsfreiheit in Anspruch zu nehmen.  Auch Theater kennt die Mittel des Populismus, also dem Publikum nach dem Munde zu spielen und einfache Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme vorzulügen. Auch Theater kennt Missbrauch der Freiheit und die Manipulation. Aber wenn ich die Internetseite des Theaters in Konstanz lese und Titel sehe wie: „Theater als humanitäre Aufgabe“ oder „Plädoyer für eine neue Säule der Entwicklungshilfe“, wenn ich Ihr thematisches Programm für die nächste Spielzeit ansehe, sehe ich, das ist Theater der Aufklärung, das ist Theater, das sich einbringt, das ist Theater, das Grenzen überwindet und die Auseinandersetzung nicht scheut, auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, denn dies ist überhaupt die Voraussetzung, andere zu verstehen und nicht künstliche Grenzen zur Abschottung zu errichten. Erst dann ist möglich, womit Konstanz und Kreuzlingen im August 2006 Bern und Berlin in Staunen versetzten:

Sie rissen hier am schwäbischen Meer den Grenzzaun nieder und ersetzten ihn mit künstlerischen Skulpturen. So wurde mehr als ein Grenzzaun, nämlich Grenzen in den Köpfen weggesprengt.

Das tut auch das Theater Konstanz, indem es seine Spielzeit in der Schweiz eröffnet – und dafür nicht einmal Eintritt verlangt. Das ist ein symbolischer Akt, der Grenzen sprengt und Freundschaft sucht.