Ein Tunnel zum Mittelpunkt der Erde
Ein Tunnel zum Mittelpunkt der Erde
12. Juni 2023, Jubiläum 50 Jahre Fachgruppe für Unterbau FGU, KKL Luzern
Eine meiner ersten Amtshandlungen war die Einweihung eines Strassentunnels. Ich war neu im Amt, wollte mit alten Zöpfen aufräumen, zierte mich, mit der Schere ein Band zu durchschneiden und in die Kameras zu lächeln. Der kantonale Baudirektor, SVP, wurde ungehalten und befahl mir vor laufenden Kameras:
„So, tue jetzt nicht so blöd, nimm die Schere und schneide!“
Verdattert gehorchte ich ihm und merkte sofort:
Er hatte recht.
Eine Tunneleröffnung ist ein Ereignis.
Der Publikums- und Medienaufmarsch ist gewaltig.
Die Reden und Interviews entfalten eine Breitenwirkung, die sonst nirgends zu erreichen ist.
Mit der Zeit widmete ich mich Tunneleröffnungen mit aller Hingabe.
Ich gab meine Erfahrungen meinen Nachfolgerinnen weiter.
Eine hat sich (für die Gottharderöffnung) von einer berühmten Modefirma in St. Gallen extra ein Gewand mit Tunnelmotiven herstellen lassen, ein langes Kleid mit grauen Löchern.
Was wird mein Nach-, Nach-, Nachfolger anziehen? Mein Vorgänger, Adolf Ogi, weiss ihm sicher einen guten Rat.
- Politische Bedeutung der Infrastrukturen
Woher diese Begeisterung für Tunnels?
Bauen unter der Erde, lateinisch, infra strúere,
der «Bau darunter» ist die «Infrastruktur».
Jeder Unterbau ist von gesellschaftlicher Bedeutung.
- Wasser- und Gasleitungen versorgen uns mit Leben.
- Abwasserkanalisation schützt uns vor Krankheiten.
- Endlager für atomare Abfälle gewähren Sicherheit.
- Glasfasernetze ermöglichen Internetverbindungen.
- Alpentunnel öffnen den Weg zum Mittelmeer.
- Ob Kartoffeln und Käse in einem Keller reifen, oder
- bange Bundesräte in einem Bunker überleben sollen,
ist im Prinzip dasselbe: Immer geht es um einen politischen Zweck, wirtschaftlich, militärisch, sozial, Schutz der Umwelt.
Es gibt auch Infrastrukturen oberhalb des Bodens.
Strassen, Schienen, Schulen, Kultur, das Gesundheitswesen.
Auch Banken und Fluggesellschaften sind Infrastrukturen. Sie sind allerdings privat und der Staat hat nicht dreinzureden, ausser wenn er sie retten muss, weil sie systemrelevant sind und too big to fail.
Aber, und das ist ein Unterschied,
die «Oberirdischen», also Schulen, Spitäler und Banken, könnten nicht existieren ohne die «Unterirdischen», die klassischen Infrastrukturen.
Der Bau unter der Erde ist die Mutter aller Infrastrukturen, nicht nur wegen der Herkunft des Wortes, sondern wegen seiner inhaltlichen Bedeutung.
Ein Baum wurzelt im Boden. Die Wurzeln sind die Infrastruktur der spriessenden Äste und der grünen Blätter. Ohne sie könnte der Baum gar nicht wachsen.
Die Wurzeln dringen bei mancher Pflanze genau so weit in die Tiefe, wie der Stamm und die Äste in die Höhe streben.
Genauso ist es bei einer Stadt. So wie sie sich nach oben verdichtet, so tut sie es auch unterirdisch.
Das Leben der Menschen über dem Boden hängt ab von der Métro, von Energieleitungen, Erdwärmesonden, von der Abwasserkanalisation und
- Vom Tunnelbau
Einen Pass können wir nur mühsam über viele Höhenkurven überwinden. Das ist ein Umweg.
Ein Tunnel aber ist die direkte Verbindung zwischen zwei Punkten. Er ist die Gerade.
Die Geschichte des Tunnelbaus ist so alt wie die Menschheit. Selbst die bekanntesten Tunnel aus dem Altertum sind relativ neu:
- In der Bibel wird die Wasserleitung unter Jerusalem, der Hiskia Tunnel, erwähnt
(8. Jhdt vor Christus, erst kürzlich wieder entdeckt).
- Aus dem 6. Jhdt. vor Christus ist auf Samos ein Tunnel bekannt, ungefähr 1 km lang, gebaut von Eupalinos, von beiden Seiten angebohrt und man traf sich damals punktgenau in der Mitte.
Dank der guten alten Trigonometrie.
Dank neuer Technologien entwickelte sich der Tunnelbau weiter (Schwarzpulver, Dynamit, Bohrköpfe, GPS) und er wird sich weiter entwickeln mit Digitalisierung und Algorithmen.
Er entwickelt sich aber auch zusammen mit politischen Einsichten und Veränderungen. Seit Jahrhunderten werden nicht nur technologische, sondern auch ökologische und soziale Erfahrungen weitergegeben.
Tunnel sind heute sehr viel sicherer und auch ökologischer:
Vor einer Woche wurde ein 250 Meter langer Strassentunnel in Bickwil eingeweiht (Zubringer auf die A4). Er umfasst:
- zwei Notrufsäulen,
- ein 4,5 km langes Leitsystem für Amphibien,
- 15 Kleintierdurchlässe,
- zwei Brücken und
- eine Unterführung für Wildtiere.
Ihr Verband kümmert sich seit 50 Jahren um die Weitergabe und um den Austausch von Erfahrungen.
Durch einen ganzheitlichen Ansatz treiben Sie so die nachhaltige Entwicklung des unterirdischen Raumes voran.
Sie arbeiten spartenübergreifend mit allen, die in irgendeiner Form mit Tunnelbau zu tun haben.
- Ingenieure, Bauherren, Lieferanten von Röhren und Folien.
- Sie kümmern sich um die Lehre, um Dozentenstellen. Und:
- Sie haben Kontakt zur Politik:
- Politik und Tunnelbau sind besonders eng verflochten.
Das hat mehrere Gründe:
- Zunächst: Infrastrukturen unter dem Boden sind, wie gesagt, alle von öffentlichem Interesse und deswegen mit Politik verbunden:
90% aller Aufträge ergehen durch die öffentliche Hand.
- Es kommen dazu: Die geologischen und die enormen finanziellen Risiken beim Bau einer grossen Infrastruktur. Beispiel Gotthardbasistunnel: Kein privates Unternehmen hätte das gewaltige Risiko dieses gigantischen Projektes auf sich nehmen können.
- Nur eine politische Gemeinschaft ist dazu in der Lage.
- Negative Erfahrung Zimmerbergtunnel mit versuchtem PPP.
- Aus politischen Erfahrungen lernen
Die Zusammenarbeit von Technik und Politik hat dazu geführt, das aus politischen Fehlern gelernt wurde.
(Das ist ja in der Politik leider nicht die Regel, wenn wir die Weltlage anschauen.)
Aber bezogen auf den Tunnel ist das anders:
Die Erfahrungen aus dem Furkaloch wurden auf den
Gotthardbasistunnel übertragen:
Es wurde eine parlamentarische Kontrolle eingerichtet, die Opposition wurde einbezogen: Kritik konnte so früh eingebracht werden.
Folge: Keine Kostenüberschreitung, pünktliche Eröffnung
- Gegenseitiger Austausch zwischen Technik und Politik,
Die wichtigsten Lehren aus Erfahrungen ergeben sich aus der Zusammenarbeit zwischen technischen Fachkräften und den demokratischen Entscheidungsgremien.
Vgl. Banker, die sagen, Politiker verstehen nichts von Banken. Dann sollen sie es eben erklären. So wie das Tunnelingenieure auch tun.
Ich verstand auch von Vielem nichts, zum Beispiel Strassenbau:
Der damalige Direktor des ASTRA, verzweifelte manchmal: «Herrgott, hän Sie’s immer nooni begriffe?!»
Auch von Tunnelbau und Geologie verstand ich vieles nicht: Pioramulde (meinte das sei besonders hartes Gestein, ist aber Zuckergestein). Aber sie war ein Risiko bis zuletzt. Und weil ich dies dank Erklärungen begriffen habe, nutzen wir es als Argument für die Netzvariante: Und so wurde auch wegen der Pioramulde und ihrem Risiko zusätzlich der Lötschbergtunnel gebaut.
Politiker müssen aufgeklärt werden. Das tun Sie.
Ihre Vereinigung entwirft selbst die Normen, welche die Politik dann in aller Regel übernimmt.
Im Dialog zwischen Technik und Politik kann hin und wieder auch die Politik etwas erklären, zum Beispiel politische Abläufe und die Meinungsbildung in der Demokratie.
In der direkten Demokratie haben die Stimmbürger das letzte Wort.
Daher ist es wichtig, sich an sie zu wenden.
Das tun Sie im Jubiläumsjahr
Sie machen Führungen, Sie zeigen die Infrastrukturen unter der Erde.
Ich beglückwünsche Sie sehr, dass Sie diese Blicke in den Untergrund gewähren.
Ihr Angebot ist faszinierend:
- Salzmine, Käsekeller, unterirdische Edelpilze,
- Zivilschutzanlagen, Militärfestung, Kanaltracking.
- (Auch der Bundesratsbunker hätte wohl grosses Interesse gefunden. Aber auch ich durfte ihn erst nach meiner Wahl besuchen.)
Es geht nicht nur um den technischen Einblick,
es geht auch darum zu sehen, was unser Wohlstand erheischt und was dafür aufgewendet werden muss.
Diese Öffnungen und Führungen sind eine politische Aufklärung.
Auch eine Aufklärung darüber, was unter der Erde in aller Bescheidenheit geleistet wird.
Über dem Boden herrscht diese Bescheidenheit nicht.
Im Gegenteil.
Reiche Familien imponierten mit den Geschlechtertürmen in San Gimignano. Das versuchen heute die Scheichs in Dubai oder die Pharma in Basel.
Oben wird geprotzt und gepotenzt.
Unten wird den Menschen gedient.
- Ausblick
Wie sieht die Zukunft des Tunnelbaus aus?
Bauen unter der Erde wird weiterhin zunehmen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
- Erstens: Der Mobilitätsdrang ist ungebrochen.
Die Menschen wollen sich stets schneller bewegen und scheuen keine Innovation, um ihren Traum von Mobilität zu verwirklichen.
Die Worte «Sinn» und «Weg» sind miteinander verwandt:
Der Sinn des Lebens ist es, einen sent, einen Weg suchen,
um sich selber zu bewegen, aber auch, um Waren, Daten und Energie zu transportieren.
Budgetposten für neue Verkehrswege werden vom Parlament aufgestockt, nie gestrichen.
- zweite Strassenröhre für den Gotthard
- Dritter Alpentunnel, soeben im Parlament,
- Wiederbelebung Bedretto Tunnnel
- Cargo sous terrain. Bund hat gesetzliche Grundlage dazu geschaffen.
- Unterwassertunnel SBB für Bahnhof Luzern
Verkehrsvorlagen haben ein leichtes Spiel in der direkten Demokratie.
Vgl. sechsspurige Autobahn Zürich – Bern / Lausanne – Genf oder neuer Eisenbahntunnel zwischen Aarau und Zürich?
Die immer auf ‘s Sparen pochende NZZ fand den Kompromiss: Es braucht Beides!
- Ein zweiter Grund für das Bauen unter der Erde:
Das Bauen nach oben ist limitiert
Zum Teil aus denkmalpflegerischen Gründen.
Daraus entwickelt sich eine Verlagerung auf unterirdisches Bauen, vorab mit dem Zweck, Arbeitsplätze unter der Erde zu schaffen.
- Schloss Versailles (Denkmalpflege). Alle Erweiterungen erfolgten unterirdisch.
- Oper in Zürich: fünf Stockwerke unter dem Boden. Übungsräume.
- Museum Rietberg
- In Singapur mit seinem begrenzten Territorium bildet die unterirdische Stadt praktisch das Spiegelbild der oberirdischen.
Unter der Erde leben?
Trotz futuristischen Projekten habe ich Zweifel.
Es gibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch zwei Welten:
Der Boden trennt zwischen oben und unten,
- zwischen Licht und Dunkel,
- zwischen freiem Atmen und Klaustrophobie,
- Unten Gräber und Endlager, oben das Leben.
Etwas anderes ist, unter der Erde zu überleben, wie der Vietcong oder die verfolgten Christen in Rom.
Unterirdisches Überleben im Kriegsfall kann aber wieder aktuell werden. Gegenwärtig sind all die Kavernen und Bunker eher museal geworden. Oder zu Hotels umgebaut.
- Ein dritter Grund für unterirdisches Bauen:
Es gibt auch skurrile Motive für das Bauen unter der Erde.
Es gibt eine Haltung, die heisst: „Aus den Augen aus dem Sinn!»
Wenn uns oben etwas stört oder lästig ist, unter den Boden damit! «Diese Abgase, dieser Gestank! In einen Tunnel mit dem Dreck! Dann ist er weg und die Luft ist wieder sauber.»
- Tunnel für Autobahn im Seeland (also nicht durch einen Berg, sondern unterirdisch im freien Feld), damit Zugvögel weiterhin zwischenlanden können.
- Forderung des Landschaftsschutzes, Starkstromleitungen unterirdisch zu legen. (Bsp. Pfynnwald)
- Karikatur zeigte kürzlich ein unterirdisches Windrad als Ausweg aus den kontroversen Diskussionen.
Was auch immer die Gründe und Beweggründe sind:
Bauen unter der Erde nimmt weiterhin zu und zwar exponentiell.
Immer tiefer wird gegraben.
Bis zum Mittelpunkt der Erde? Wie damals Jules Verne?
Ein Job für Elon Musk, wenn er mal vom Mars zurückkommt?
Vielleicht ist er bei Ihrem 100. Geburtstag Festredner?
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In meiner Rücktrittsrede als Bundesrat bilanzierte ich 115 in meiner Amtszeit eröffnete Tunnel. Meine allerletzte Amtshandlung, 15 Jahre nach meiner Weigerung, ein Band zu durchschneiden, fand wieder in einem Tunnel statt. Es war der Durchstich des Gotthard Basistunnels. Er trieb Ogi und mich, zwei BR aus entgegengesetzten Parteien, in die Arme und uns beiden die Tränen in die Augen. Das Bild erscheint immer wieder als Symbol dafür, dass ein Tunnel Menschen zusammenbringt.
Sie und Ihr Verband verwirklichen diese Vision und Sie werden es weiter tun.
Dafür danke ich Ihnen.